21. - 23.06.2019: SOUTHSIDE FESTIVAL 2019 - Neuhausen ob Eck

27.06.2019
 

 

Das SOUTHSIDE FESTIVAL geht in die 21igste Runde. Wie mittlerweile fast jeden Festivalsommer wird auch 2019 im Vorfeld von Besucher- und Veranstalterseite ums Wetter gebangt – das Festival geht in diesem Jahr aber relativ komplikationslos über die Bühne.

Nicht nur mit dem Lineup überzeugt die Schwester des Hurricane-Festivals erneut, auch an der organisatorischen Front hat man dieses Jahr ordentlich ins Zeug gelegt: So gibt es dieses Jahr zur Freude des Campinggeländes eine festivaleigene, riesige Filiale von Aldi Süd, die die Besucher zu Billigpreisen mit Verpflegung und Campingutensilien versorgt. Auch Rossmann ist, etwas weiter entfernt vom Campingplatz, vertreten. Plastikmüll wird von Seiten des Southside Festivals minimal gehalten: Die Besucher wurden per Ankündigung gebeten, ihren Anteil daran zu minimieren und von Festivalseiten wird kein Einwegplastik verwendet. Auf der langen Landebahn des ehemaligen Flughafens findet sich dieses Jahr neben einer Landebahn-Bühne auch ein Meer an Merchandising- und Klamottenständen sowie Stände vieler unterstützenswerter Projekte wie Peta2. Außerdem unterstützt das Festival Viva con Agua und auch seitens der Bands werden die Besucher ermutigt, ihren Becherpfand (2€) an diese zu spenden. Auch ein Foodsharing-Stand ist Teil des Nachhaltigkeits-Konzeptes des Festivals. Doch neben der Sicherstellung eines ethisch halbwegs sauberen Gewissens soll auch der Gaudi-Faktor nicht zu kurz kommen: Sowohl auf dem Camping- als auch auf dem Festivalgelände wird durchweg Bierpong im Großformat (mit Tonnen und Bällen statt Bechern und Tischtennisbällchen) gespielt, donnerstags kann man dabei sogar einen Frühstücks-Gutschein gewinnen. Auf dem Festivalgelände erinnert zwischen den vier farbigen Bühnen alles an einen riesigen Rummel: Essensstände für jedermann (Gnocchi, Flammkuchen, Pakistanisch, eigentlich wirklich alles), Riesenrad, Hau-den-Lukas, eine weitere Bühne des Hauptsponsors Firestone mit Sets von Bands wie SMILE AND BURN oder MAFFAI. Firestone und Rockstar versorgen das ganze Festival mit roten und schwarzen Hüten, neben den vielen echten Tattoos bedecken kleine Airbrush-Tattoos die Haut der Festivalbesucher. Glitzer im Gesicht, Leuchtstäbchen, McDonals mit McFlurry ist auch am Start. Zu guter Letzt ein riesiger, zweistöckiger Jägermeister-Hirsch, der Feuer aus dem Geweih stößt und Rauch ausschnaubt. Wie man die vielen Faktoren, die das Southside richtig macht und den Mallorca- und Konsumfaktor auf der anderen Seite für sich kognitiv unter einen Hut bringt, bleibt Aufgabe des Einzelnen. Da muss man offensichtlich Ambivalenzen aushalten können. Fest steht: Hier ist wirklich für fast jeden was dabei. Und auch das ist für die einen Fluch, für die anderen Segen. Siehe noch populärere Beispiele wie Rock am Ring, wo sich Jahr für Jahr über die Zusammenstellung des Line-Ups aufgeregt wird.

 

---FREITAG---

Doch nun zum wesentlichen: Der Musik. Da mir und meinen Weggefährten der einzige wirklich heftige Regenfall des Wochenendes am Freitagmittag einen Strich durch die Rechnung macht, verzichte ich als Einstieg ins Festival auf den Auftritt der ALEX MOFA GANG, auf die ich einige Wochen vorher durch ihr Video zum Album-Titeltrack „Ende offen“ aufmerksam geworden war. Dass die Berliner gerade auf den Freitag des Southside ebenjenes Album veröffentlichen, hätte passender kaum sein können. Das leuchtet auch als guter Grund dafür ein, warum man die Jungs bereits am vorherigen Abend im Zuge des Warm-Ups auf die Bühne gestellt hatte.

Nachdem Beruhigung der Wetterlage ist dann SOOKEE der erste Act für mich. Eine weitere Künstlerin aus Berlin, die allerdings nicht erst seit gestern in der deutschen Rap-Szene unterwegs ist und diese daher auch in nicht unerheblicher Weise geprägt hat. Mit ihren klar artikulierten politischen Texten und Ansagen, die vor allem um die Themen Sexismus und Rassismus kreisen, ist SOOKEE mir persönlich in dieser Hinsicht ein echter Lichtblick an diesem Wochenende. So macht sie sich mit einem charmanten Zwinkern darüber lustig, dass sie wohl eher zur „Reservebank“ des Festivals gehöre und erst gebucht worden sei, nachdem Linus Volkmann sich einmal über die ungleichen Geschlechterverhältnisse auf Festival-Lineups ausgesprochen hatte und erklärt, dass sie mit einigen Acts auf dem Billing alles andere als cool ist. Denn kolonialistische und sexistische Inhalte dazu nutzen, um „dem Kapitalismus in die Hände zu spielen“, sei für sich nicht tolerierbar. Dafür gibt es nicht nur von SOOKEE, sondern auch von ihren Anhängern also konsequenterweise den Mittelfinger.

Und der dritte Berliner Act gleich hinterher: Mit GROSSSTADTGEFLÜSTER steht im Anschluss auf der blauen Bühne ein weiterer deutschsprachiger Künstler mit einer Frau am Mikro in den Startlöchern. Hatte man sich vorher noch vor den anderen Bühnen umgesehen, so wundert man sich jetzt, woher denn die ganzen Leute auf einmal kommen. Gehörte SOOKEE eher zur Fraktion „Real Talk“, so ist GROSSSTADTGEFLÜSTER wohl eher dem Team „Animation“ zuzuordnen – was auf einem solchen Großevent allerdings natürlich zu den Qualitäten gehört, die einen weiterbringen. Gesellschaftskritik findet man auch in den Texten der Frontfrau und Stimmungsmacherin Jennifer Bender, allerdings in deutlich anderer Verpackung daherkommend als noch bei SOOKEE. Der Platz vor den ersten beiden Wellenbrechern ist gut gefüllt mit mitgehenden Fans und gutgelaunten Gesichtern. Und das ausdrücklich nicht nur bei dem großen Hit „Fick-Dich-Allee“, sondern auch bei allen anderen Songs. Chapeau, GROSSSTADTGEFLÜSTER sind ein wirklich guter Griff für einen Festivalmittag.

Ähnlich viele, wenn nicht gar mehr Leute, ruft YUNG HURN aus Wien dann vor der Red Stage auf den Plan. Man halte von ihm, was man wolle – an ihm hat wohl angesichts deiner Medienwirksamkeit in den letzten Jahren wirklich kein Weg vorbeigeführt. Ob durch Lobsalbungen im „Mit Verachtung“-Podcast von CASPER und DRANGSAL oder durch seine viral gegangenen Video-Interviews mit dem SRF: Irgendwie konnte man kaum anders, als sich mit ihm zu beschäftigen. Für mich ist YUNG HURN nach wie vor ein Mysterium, denn ähnlich wie vor einigen Jahren bei MONEY BOY ist mir absolut unverständlich, wie man mit solch minimalistischem musikalischen Anspruch (Macbook aufgeklappt und fertig) und so dermaßen dämlichen Texten Erfolg haben kann – aber vermutlich ist genau das die Antwort. Eine Mischung aus Konterkultur und Ironie scheint es für die älteren Kaliber sein, was YUNG HURN so interessant macht. Für die Minderjährigen scheint es etwas anderes zu sein – mir ist das schleierhaft. Vermutlich muss es sich so für unsere Großeltern angefühlt haben, als ihre Kinder auf einmal die BEATLES und die ROLLING STONES hörten. YUNG HURN kommt jedenfalls recht schnell aus der Puste und ist eher optisch als akustisch interessant. Sein Shirt reißt, dann bindet er es sich um den Kopf und präsentiert sein schiefes und unförmiges Nike-Tattoo auf dem Rücken, von den vielen jungen Fans frenetisch bejubelt. Die in seinen Texten angenommene Haltung, wie auch immer man sie nun nennen mag, kommt auch in seinen Ansagen rüber, beispielsweise als er sarkastisch kommentiert, dass die Veranstalter sich ja mit dem Riesenrad mächtig was haben einfallen lassen.

Nach dieser Begegnung der dritten Art geht es für mich wieder rüber zur blauen Bühne, wo OK KID bereits aufgebaut haben – heute finden neben den drei Wahlkölnern etliche als Spiegel fungierende Pappmännchen auf der Bühne Platz. Nachdem „Warten auf den starken Mann“ zunächst nur mit Instrumenten angespielt wird, kommt Frontmann Jonas endlich mit Deutschland-Anglerhut auf dem Kopf auf die Bühne und tritt dem mitsingenden Southside mit einprägsamer Präsenz entgegen. Es dauert nicht lange, bis er den Hut los ist und nochmal einen Gang hochdreht. OK KID haben mit „Sensation“ mittlerweile ihr drittes Studioalbum auf den Markt gebracht, nachdem „Zwei“ im Jahr 2016 bereits für ordentlich Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Ähnlich wie FEINE SAHNE FISCHFILET oder andere deutsche zeitgemäße Festivalgrößen platzieren OK KID sich mit Texten und Videos, die dem deutschen Zeitgeist in den Jahren seit Beginn der Flüchtlingskrise und Aufkommen von Pegida und AFD mit Biss zu Leibe rücken deutlich im linkspolitischen Spektrum und treten dabei bei der Festivalcommunity offene Türen ein. Ähnlich durchdacht wie die Texte und die Visualisierung ebenjener kommt allerdings auch die Musik daher, die es auf immer neuen Wegen schafft, Rock- und Elektro-Elemente harmonisch miteinander zu verbinden. Als Gast haben die Jungs heute den Wiener Rapper GERARD mit dabei, der zu einem Song Vocals beisteuert. Und ich dachte schon kurz, ich müsste nochmal YUNG HURN verkraften. Neuere Songs wie „Bombay Calling“ haben nicht mehr viel gemein mit der Stilrichtung, die OK KID mit ihrem Debütalbum und der überragenden „Grundlos“-EP eingeschlagen haben. So sehe ich den Southside-Auftritt der ehemaligen Gießener mit einem zufriedenen und einem enttäuschten Auge: Ich freue mich ob des mittlerweile erzielten Erfolges, aber trauere der Musik der frühen Jahre hinterher. Wäre ich länger geblieben, hätte ich wohl ältere Songs zu hören bekommen. So bleibt „Kaffee Warm“ für mich deren einziger.

Denn ich muss rüber zu WOLFMOTHER auf die grüne Bühne. Die hatte ich zuletzt im Sommer 2012 in Offenbach gesehen. Dass diesmal Bassist und Keyboard Ian Peres nicht mit an Bord ist, verwundert mich. Ersetzt wird er durch gleich zwei Leute. Alte Bekannte sind als heute nur Gründungsmitglied und Bandkopf Andrew Stockdale sowie Drummer Hamish Rosser. In den letzten sieben Jahren hat sich einiges getan, aber nichts Weltbewegendes: Die großen Hits der Australier sind nach wie vor die alten, und mittlerweile sind sie 10 bis 14 Jahre alt. Vom neusten Album „Victorious“ gibt es nur den Titeltrack als Opener für das Set und später noch das funkige „Gypsy Caravan“ zu hören. Ansonsten regnet es rifflastige Hymnen wie „Colossal“, „California Queen“, „New Moon Rising“ und natürlich auch „Woman“ und zu guter Letzt „The Joker and the Thief“. Stockdale spart sich große Ansagen, fragt nur ab und an nach dem Befinden des Festivals, und lässt ansonsten seine Finger und seine Stimmbänder sprechen. Obwohl ich durchaus Sympathie für diese Bodenständigkeit der Band empfinde, könnten WOLFMOTHER für mein Empfinden auf einem derart großen Festival etwas mehr Euphorie und weniger Routine ausstrahlen. Aber was vielleicht nicht da ist, das ist vielleicht nicht da. Vielleicht wird es auch Zeit, sich mit einem zeitgemäßeren LED ZEPPELIN-Abklatsch zu beschäftigen und mal in GRETA VAN FLEET reinzuhören.

Für VISIONS-Leser dürfte das Southside-Lineup jedes Jahr wirklich die reinste Wonne sein, denn etliche der vertretenen Künstler sind Lieblinge dieser Zeitschrift und sicherlich auch schon vermehrt auf dem Cover zu sehen gewesen. Bei THE STREETS bin ich mir diesbezüglich nicht sicher, unbestritten ist jedoch, dass es sich bei Mike Skinner und seiner Band um absolute Ausnahmekünstler handelt. Besonders um die Erscheinungszeit des Erstlingswerkes „Original Pirate Material“ im Jahr 2002 muss die Band riesige Wellen geschlagen haben – doch da war ich erst 12 und habe noch LINKIN PARK gehört. Erst im letzten Jahr entdeckte ich THE STREETS durch „It’s Too Late“ für mich – in der Folge war ich absolut geflasht davon, wie das Debütalbum auch heute noch frisch und zeitgemäß klingt. So wundert es mich gar nicht, dass dieses Album die Setlist der STREETS dominiert und die Leute am meisten mitreisst. Meine Erwartungen werden allerdings enttäuscht – sowohl was die Band als auch das Publikum angeht. Die Band langweilt auf Dauer leider eher und klingt in langen Strecken kaum wie auf Platte (sondern deutlich schwächer auf der Brust), auf das Publikum springt nicht wirklich der Funke über. Nur zu „Fit But You Know It“, das für die Gaudi noch etwas länger gemacht und ordentlich ausgeschlachtet wird, ist diesbezüglich die Ausnahme. Skinner zieht sich den Aluhut eines Fans auf und nimmt ein Bad in der Menge. Glücklicherweise muss er sich keine Gedanken darüber machen, dass er wegen Crowdsurfings in den nächsten 24 Stunden vom Festivalgelände verwiesen wird.

Nach einer kleinen Trink- und Essenpause beginnen die FOO FIGHTERS dann pünktlich ihr Set mit einem Knaller: Allein wie Dave Grohl, Taylor Hawkins und der Rest der Fighters auf die Bühne kommen, nur um kurze Zeit mit „The Pretender“ unmittelbar in die Vollen zu gehen, verdient sich bereits das Prädikat „episch“. Gerade für jemanden, der die FOO FIGHTERS vorher noch nie gesehen hat. Zweifel, dass sie die Energie über ein zweieinhalbstündiges Set lang aufrechterhalten können, zerstreuen sich bei mir schnell. Grohl ist wirklich der geborene Frontmann und macht die Lustlosigkeit der ihm vorangegangenen Künstler in wenigen Songs für mich total wett. Als Festival-Headliner braucht es meiner Meinung nach Hits, die fast jeder schon mal irgendwo gehört hat. Die haben die FOO FIGHTERS natürlich en masse. Und das in einer Bandbreite, die kaum Wünsche offen lässt. „One by One“ ist mit seiner Härte mein Lieblingsstück aus dem Repertoire der FOO FIGHTERS, „Wheels“ mit verlangsamtem Akustik-Beginn macht dem Balladenfaktor von „Best of You“ Konkurrenz, „Times Like These“ und „Learn to Fly“ sind zeitlose Rock-Ohrwürmer, die auch live ihre volle Wirkung entfalten. Die FOO FIGHTERS verlassen sich allerdings nicht nur auf das makellose Songwriting ihrer frühen Tage, sondern garnieren ihr Liveset auch mit allerlei Schnickschnack: Für ein minutenlanges Drumsolo wird Taylor Hawkins mit seinem Drumpodest in schwindelerregende Höhen gefahren. Einige Zeit später stiehlt er dann vollkommen die Show, als er nach vorne kommt – und zwar nicht nur, um seine VAN HALEN-Gedenkleggins zu präsentieren, sondern auch, um im Anschluss „Under Pressure“ von QUEEN zu trällern. Das muss man sich erstmal trauen. Die Zuschauer, deren QUEEN-Fieber durch den Kinofilm „Bohemian Rhapsody“ sichtlich wieder angefacht wurde, bejubeln das wie nichts anderes an diesem Freitag. Hawkins macht stimmlich eine sehr gute Figur, während WOLFMOTHER-Drummer Hamish Rosser, den Hawkins neckisch „Ham Sandwich“ nennt, seinen Platz auf dem Drumhocker einnimmt. Ein Fan findet das gar so gut, dass er einen der geschätzt 15 bis 20 Meter hohen Türme neben dem FOH emporklettert, um dann betrunken wankend und oben ohne zu den FOO FIGHTERS zu tanzen – was diese allerdings nicht mitzubekommen scheinen. Zu einigen Songs werden chorartige Backing Vocals von vier Damen beigesteuert – darunter auch Dave Grohls Tochter Violet, die laut ihrem Papa offiziell die beste Stimme von allen Grohls auf der Bühne hat. Obwohl Grohl vorher noch laut getönt hatte, dass die FOO FIGHTERS normalerweise dreistündige Sets spielen, ist nach „Everlong“ dann bereits fünfzehn Minuten früher als geplant Schluss. Das kommt unerwartet.

Es lässt aber zumindest genug Zeit, um für THE CURE rüber zur blauen Bühne zu stapfen. Gut, dass es inzwischen komplett dunkel geworden ist – denn für die richtige Atmosphäre würde Tageslicht hier sicherlich nicht sorgen. Mit „Shake Dog Shake“ und „From the Edge of the Deep Green Sea” beginnen Robert Smith und seine vier Bandkollegen ihr Set eher unspektakulär. Es dauert bis zum vierten Song, bis ein Hit von der Leine gelassen wird: „Lovesong“ bringt die Menge zum Toben, auch wenn sichtlich weniger los ist als noch bei den FOO FIGHTERS, die für viele offensichtlich der wahre Freitags-Headliner waren. Mit „Pictures of You“ wird der Romantik-Faktor weiter hochgehalten. Immer wieder ist es ein schöner Anblick, die Diehard-Fans in der ersten Reihe auf den beiden Seitenmonitoren zu sehen, bekleidet mit Shirts, die älter sind, als die meisten Southside-Besucher. Robert Smith ist wie gewohnt sparsam mit Ansagen aber besticht einmal mehr mit seinem demütigen Charme. Seine Band ist inzwischen 40 Jahre alt, letztes Jahr feierten THE CURE im Londoner Hyde Park ihr Jubiläum. Ähnlich wie in diesem Rahmen bietet die Band aus Südengland auch heute einen Querschnitt durch ihr Schaffen – nur dass die ganz alten Songs fehlen, die zum 40. Geburtstag nochmal rausgekramt wurden. „Just Like Heaven“ und „In Between Days“ sind weitere Fanfavoriten. Wie auch in London sind THE CURE alles andere als sparsam an Zugaben: Ganze neun Songs schmucken das ausgiebige Encore. Wenn man so will, holen THE CURE die ausgefallene Stagetime der FOO FIGHTERS wieder raus – und das gleich doppelt. Das Encore ist qualitativ deutlich der Höhepunkt des Sets, finden sich darin Hits wie „Close to Me“, „Why Can’t I Be You“ und der größte Hit „Friday I’m In Love“ – hier ist Smith ganz aus dem Häuschen, das heute auch mal der Wochentag passt. „Boys Don’t Cry“ ist dann der krönende Abschluss für Festivaltag 1. Dass THE CURE nach sieben Jahren Southside-Abstinenz nochmal am Start gewesen sind, schickt heute viele Leute sichtlich sehr glücklich in die Nachtruhe.

 

---SAMSTAG---

Die Nacht war für viele Besucher kurz, denn die Aftershowparty auf der Landebahn-Bühne geht bis 5 Uhr morgens und es wird Ende Juni bekanntermaßen früh hell. Als spezieller Überraschungs-Act heizen am Samstagmittag FRITTENBUDE auf der Landebahn-Bühne den „früh Aufgestandenen“ ein und verschaffen damit offensichtlich vielen Festivalbesuchern einen Start in den zweiten Tag, wie man ihn sich besser nicht wünschen könnte. Die Party ist so laut, dass ich es bis an mein Zelt mitbekomme.

Ich starte mit ALICE MERTON auf der blauen Bühne in den zweiten Tag. Ebenfalls eine Berlinern, allerdings auch über den beliebten Wohnort hinaus eine „Frau von Welt“: In vier Ländern aufgewachsen. Es braucht nicht wirklich viel mehr, um ihren größten Hits „No Roots“ zu verstehen. Der wird natürlich in der zweiten Hälfte des Sets zum Besten gegeben, aber ähnlich wie gestern bei GROSSSTADTGEFLÜSTER überzeugt auch ALICE MERTON über ihren größten Hit hinaus mit ihren Stücken, die den Fans durchaus schon bekannt sind. Vor allem „Hit the Ground Running“ und „Why So Serious“ haben mächtiges Ohrwurmpotenzial und werden lauthals mitgegröhlt, allerdings können die meisten mit ALICE MERTONs schöner Stimmer wohl kaum mithalten. Mich erinnert sie stimmlich stark an LONDON GRAMMAR, die musikalische Untermalung fällt jedoch im Vergleich viel poppiger, elektronischer und lebhafter aus – passend zur quirligen Persönlichkeit, die da auf der Bühne rumhüpft. Kaum, dass ALICE MERTON ihre grüne Regenjacke abgelegt hat, fängt der Regen an. Der guten Stimmung tut das allerdings keinen Abbruch – note to self: Zuhause auf jeden Fall mal das Debütalbum „MINT“ ein paar Runden drehen lassen.

Es ist recht witzig, wie manche Bands unter den Wetterverhältnissen auf einem Festival leiden und andere davon profitieren. Schwierig zu sagen, ob GURR (echt, schon wieder Berlinerinnern?!) auch ohne Petrus‘ Hilfe so viele Leute ins Zelt der White Stage gelockt hätten. Jedenfalls ist das Zelt fast vollends gefüllt, was ich Andreya und Laura von ganzem Herzen gönne. Kaum eine Band hat Aufmerksamkeit in meinem Empfinden momentan mehr verdient. Im Rahmen ihrer Clubtour sah ich GURR im Kölner Helios und war direkt baff von ihrem Enthusiasmus, ihrer Authentizität und – for lack of a better term – ihrer Coolness. Gerade Frontfrau Andreya Casablanca hat bei mir mit ihrer „not giving a fuck“-Attitüde einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wie erwartet funktioniert das auch im Festivalrahmen: GURR sind wie immer zum Scherzen aufgelegt und haben den Fans sogar „Geschenke“ mitgebracht – früh lassen sie zwei riesige, gelbe Smilie-Luftballons auf die White Stage los. Immerhin eine dieser beiden „heißen Kartoffeln“, die nicht den Boden berühren sollen, überlebt bis zum Ende. Neben den eigenen Hits „She Says“, „Zu spät“ und „Hot Summer“ haben GURR heute auch ein NIRVANA-Cover („Territorial Pissings“ im Gepäck – ihre Interpretation klingt nicht wirklich nach dem Original (kein Wunder beim stimmlichen Unterschied zwischen Andreya und Kurt Cobain), kann sich aber mehr als hören lassen.

Obwohl ich von ihrem Auftritt auf dem Vainstream Festival 2018 eher abgeturnt war, schaue ich mir im Anschluss aufgrund der unermüdlichen Motivationsversuche meiner Campingpartnerin ENTER SHIKARI an. Um sie mir zu Hause anzuhören, war mir die Musik immer zu schrill und zu überladen, aber von der Live-Show der Briten auf dem Southside werde ich heute wirklich aus den Socken gehauen. Trotz oder gerade wegen des Regens hauen Frontmann Roughton Reynolds und seine Band so richtig auf die Kacke und haben den Chaos-Faktor scheinbar nochmal angezogen. Der Sänger überzeugt nicht nur stimmlich, sondern auch durch seine eigenartigen Tanzeinlagen und die Energie, die er nicht nur aus dem Publikum, sondern vor allem aus sich selbst herausholt. ENTER SHIKARI dürften für Unwissende und Neuentdecker mit ihren hellblau gefärbten Bühneninstrumenten und der Erscheinung ihres Frontmannes ein wirklicher Hingucker sein – Reynolds wechselt seinen Stil häufig und gibt dem Begriff Extravaganz eine eigene Note. In seinem maßgeschneiderten Anzug ermutigt die Festivalbesucher heute dazu, das Gemeinschaftsgefühl der Festivaltage in die Welt hinauszutragen, denn sie habe es bitterlich nötig. Damit hat er zweifelsohne Recht. Auch rät er den Zuschauern, verrückt und kindisch zu bleiben. Er selbst hat dafür offensichtlich ein perfektes Ventil gefunden. Mein Preis für die beste Performance am zweiten Festivaltag geht – und damit hätte ich vorher garantiert niemals gerechnet – an ENTER SHIKARI.

Sehr ruhig geht es bei mittlerweile wieder beständigem Wetter mit CIGARETTES AFTER SEX auf der blauen Bühne weiter. Ich sehe die Band zum ersten Mal und habe sie vorher nur sehr sporadisch gehört. Vor die Bühne hat sie verhältnismässig eher wenige Leute gelockt, offensichtlich handelt es sich eher um einen Geheimtipp. Dem verträumten Sound von CIGARETTES AFTER SEX kann ich etwas abgewinnen, allerdings nur für kurze Zeit. Auf Dauer klingt mir das zu sehr aus einem Guss und viel zu kantenlos.

Auch PAPA ROACH statte ich nur einen kurzen Besuch ab, denn obwohl ich von „Between Angels and Insects“ begeistert bin, verliere ich schnell die Laune an der Band. Zu wechselhaft ist meiner Meinung nach der Sound ihrer Lieder, zu sehr drängt sich mit der Eindruck auf, dass PAPA ROACH sich über die Jahre eher billig als gekonnt an die jeweils existierenden Trends angepasst hat (erst Nu Metal, dann poppige Elemente, dann sogar elektronische). Das Southside sieht das scheinbar nicht so und füllt den Platz vor der grünen Bühne für PAPA ROACH fast lückenlos auf. „Last Resort“ wird recht früh gespielt, und trotzdem bleiben die Fans vor der Bühne stehen. Die Befürchtung, dass alle bei dieser Band eh nur auf ein Lied warten, bewahrheitet sich also glücklicherweise nicht. Die Band hat alle 2 bis 3 Jahre neue Alben nachgelegt und sich so offensichtlich die Fans bei der Stange gehalten. Zu Ehren von Keith Flint wird später auch ein „Firestarter“-Cover gespielt. Letztes Jahr waren THE PRODIGY noch Headliner auf dem Southside. Die Zeit fliegt..

Zwischen den Metal-Bands auf der grünen Bühne bieten BOSSE auf der blauen einen ganz schönen Gegenpol, der sich allerdings auch (und vielleicht gerade deswegen?) großer Beliebtheit erfreut. 2018 kam das neue Album „Alles ist Jetzt“, genau wie der Vorgänger landete es zur Veröffentlichung auf Platz 1 der deutschen Alben-Charts. BOSSE ist dementsprechend also eine Bank auf deutschen Festivals. Nicht zuletzt durch seine positive und bodenständige Ausstrahlung schafft er es auch ohne große Choreografie-Anwandlungen, das Southside durchweg zum Mitmachen zu bringen. „Schönste Zeit“ und „3 Millionen“ sind natürlich die absoluten Fan-Favoriten und lassen die älteren Kaliber ordentlich in Erinnerungen schwelgen.

PARKWAY DRIVE sind über die Jahre gereift wie kaum eine andere Band im Metal-Sektor und headlinen mittlerweile die meisten Festivals, auf denen sie spielen. Auf dem Southside reicht es immerhin für den vorletzten Slot auf der grünen Bühne vor den TOTEN HOSEN. Die Australier lassen sich auf jeder Tour etwas Neues einfallen, sodass es sich immer wieder lohnt. Diesmal ist besonders der Einlauf der Band sehr beeindruckend: Auf den Monitoren wird gezeigt, wie PARKWAY DRIVE aus einem Panzer aussteigen und von Fackelträgern umgeben den Weg Richtung Bühne gehen. Dort angekommen und positioniert dauert es noch einen Augenblick, bis dann mit dem Spoken-Word-Part von „Wishing Wells“ der Auftritt beginnt – die Fans sind gleich aus dem Häuschen. Als der Song Fahrt aufnimmt, tut das auch der Moshpit. In den kommenden 70 Minuten Spielzeit konzentrieren sich PARKWAY DRIVE fast ausschließlich auf Songs ihrer letzten beiden Platten „Reverence“ und „Ire“, mit „Wild Eyes“ ist gerade mal ein Song von „Atlas“ mit dabei. Nicht mal alte Hits wie „Carrion“ oder „Home Is for the Heartless” sind mit dabei – PARKWAY DRIVE sind offensichtlich entweder angeödet von den ollen Kamellen oder sehr stolz auf ihre jüngsten Werke. Die Fans sehen nicht gerade traurig aus und gehen das volle Set mit – auch wenn Schlagzeuger Ben Gordon diesmal nicht seiner sich 360° drehende Schlagzeug-Aufhängung dabei hat, fahren PARKWAY DRIVE an Licht- und Bühnenshow wieder mächtig auf – mit Feuer, dass man bis zur blauen Bühne rüber oder alternativ bis zum Jägermeister-Hirschen spürt und mit einigen Feuerwerkskörpern. Für mich darf es deutlich weniger Pomposität und deutlich mehr alter Kram sein. Auch wenn ich mit der Meinung sicher nicht alleine stehe: PARKWAY DRIVE scheinen so oder so nichts falsch machen zu können.

BILDERBUCH aus Österreich stehen dieses Jahr auf meiner Wunschliste ganz oben und sind daher eine der Bands, auf die ich am meisten hinfiebere. Verdientermaßen klettert auch diese junge Band Slot um Slot auf den Festival-Lineups nach oben, nachdem sie in den letzten Jahren neues Material liefert ohne Ende und in den letzten drei Jahren jeweils ein Album veröffentlicht hat. Kaum zu glauben, dass es die Band schon vierzehn Jahre gibt – offensichtlich waren die ersten Jahre deutlich ruhiger. Mit „Bungalow“ wird gleich zu Beginn einer der größten Hits vom Stapel gelassen, sodass das Publikum natürlich direkt am Haken ist. Sänger Maurice Ernst ist inzwischen nicht mehr wasserstoffblond, sondern mit Naturhaarfarbe und Schlaghose unterwegs. Es ist nicht nur die mit etlichen Details versehene und trotzdem eingängige Musik der Wiener, die die Position als Co-Headliner rechtfertigt, sondern vor allem der Charme ihres Live-Auftrittes. Mit einer ordentlichen Portion Selbstironie legen BILDERBUCH ein Set hin, das vor guter Laune und Kreativität nur so strotzt. Passend dazu ist die Bühne bunt dekoriert, mit mehreren Globussen und einem Kühlschrank, in dem eine einzige Flasche Wasser steht. BILDERBUCH bringen einen zum schmunzeln, zum lachen und zum mitsingen – was mehr könnte man von einem „Anheizer“ für einen Headliner verlangen? „Frisbeee“, „Europa 22“ und „LED go“ sind der Beweis dafür, dass BILDERBUCH ihre besten Zeiten noch lange nicht hinter sich haben. Der beste Song des Livesets ist meiner Meinung nach neben „Bungalow“ und dem mal eben in der Mitte platzierten „Maschin“ jedoch „Checkpoint“  vom vorletzten Album. „Spliff“ sorgt kurz vor Ende des Sets noch einmal für ordentlich Mitmach-Faktor vor der Bühne – und passender kann man eine Crowd wohl kaum auf TAME IMPALA einstimmen.

Vorher geben sich allerdings noch DIE TOTEN HOSEN auf der grünen Bühne die Ehre als Headliner. Genau wie gestern, als die FOO FIGHTERS mit dem vorletzten Slot THE CURE die Show stahlen, scheinen heute DIE TOTEN HOSEN gemessen an der Menge vor der Bühne der wahre Headliner zu sein. Und wenn man mit „Bonnie & Clyde“ ins Set startet, ist die sowieso schon gekauft. Im weiteren Verlauf der Show liegt der Fokus auf altem Material der Hosen, was allen Kritikern der „neugewonnenen“ Radiotauglichkeit der TOTEN HOSEN in den letzten Jahren Balsam für die Seele sein dürfte. Auch der Sauf- und Gröhlfaktor stimmt – auch das ist vorprogrammiert bei Songs wie „Steh auf wenn du am Boden bist“ oder „Eisgekühlter Bommerlunder“. Das Southside ist so begeistert, dass DIE TOTEN HOSEN nach dem eigentlichen Finale „Hier kommt Alex“ gleich zwei Zugaben zum Besten geben – darunter das von manchen so verhasste, von manchen aber geliebte „Tage wie diese“ und die Fußballhymne „You’ll Never Walk Alone“.

TAME IMPALA lösen mit einer Punktlandung ab und lassen das Southside Festival mit dem langen Intro „Let It Happen“ von der letzten Platte „Currents“ gleich in eine ganz andere Welt eintauchen – dazu tragen insbesondere die imposante Lichtshow, die Strahlen durch das Publikum treibt sowie die psychedelischen Animationen auf den drei Bildschirmen neben und hinter der Band bei. Es fängt früh an, vor der Bühne nach Marihuana zu riechen. Das wird auch für den Rest des Sets so bleiben und fühlt sich passend an. Die Australier um Mastermind Kevin Parker zeigen sich sehr wortkarg und versuchen damit offensichtlich ihr bestes, die Atmosphäre ihrer Live-Show nicht zu stören. Die meisten Songs entspringen der letzten Platte, aber auch alte Songs wie das stoner-beeinflusste „Elephants“ oder „Feels Like We Only Go Backwards“ werden in den Auftritt implementiert und von den Fans wohlwollend aufgenommen. Die beiden neuen Singles „Patience“ und „Borderline“ zeigen gerade im Kontrast zu diesen älteren Stücken, wie vielseitig und progressiv TAME IMPALA in ihrer Entwicklung Musik schreiben. Der große Hit ist natürlich „The Less I Know the Better”, mit Abstand die tanzbarste Nummer der Band. Der Song sticht deutlich heraus und ruft die größte Reaktion seitens des Publikums hervor. Meiner vorab gestellten Anforderung an einen Festival-Headliner, mehrere Hits zu haben, die einfach jeder kennt, genügen TAME IMPALA jedenfalls auf keinen Fall. Das ist auf der einen Seite für viele ein eher unbefriedigender Abschluss, auf der anderen Seite finde ich es aber sehr gut, dass seitens der Festivalveranstalter einer derart jungen Band wie TAME IMPALA dieser Slot gegeben wird.

 

---Sonntag---

Heute geht es für mich etwas früher aus dem Zelt heraus. Für den Sonntag ist fast durchgehend Sonnenschein angekündigt. Das merkt man beim Campen natürlich früh, andererseits lockt das Festival heute auch mit einigen Hochkarätern gleich zu Beginn. Zum Aufwärmen stehen heute THE DIRTY NIL auf dem Programm, die mir schon seit Veröffentlichung ihres Debütalbums „Higher Power“ auf dem internen Notizzettel rumfliegen, mit denen ich mich aber noch nie wirklich beschäftigt habe. Die drei Kanadier spielen eine ziemlich punkige Ausrichtung des Rock n Roll, die Stimme von Frontmann und Gitarrist Luke Bentham erinnert mich dabei sehr an einen der beiden Sänger der MENZINGERS. Trotz der eher überschaubaren Zuschauerzahl liefern THE DIRTY NIL ein sehr energetisches Set. Kategorie: Nice to have seen, aber kein Muss.

Um ehrlich zu sein, habe ich mir THE DIRTY NIL auch von Anfang an nur als Appetizer für IDLES eingeplant. Denn die sind für mein altes Punkerherz das wahre Highlight am Sonntagmittag, wenn nicht am kompletten dritten Festivaltag. Der Ruf eilt der Band voraus. Platz 1 auf der Jahresbestenliste 2018 für „Joy as An Act of Resistance“ sowohl bei der Visions als auch beim BBC Radio, das spricht für sich. Eine weit im Voraus ausverkaufte Live Music Hall als relativ neue Erscheinung im alternativen Musiksektor, das spricht für sich. Sogar in einer der neuen Folgen der Trendserie „Black Mirror“ werden IDLES erwähnt – irgendwas müssen die fünf Jungs aus Bristol also an sich haben. Und klar, die Songs auf dem oben erwähnten Album sind für die derzeitige Punklandschaft wie ein frischer Schwall Wasser ins Gesicht, gerade durch die auffällig unverschnörkelten Texte. Aber gerade die Live-Show ist es, die die Band so besonders macht. Das kann man direkt schon während der ersten Songs statuieren. Der Chaos-Faktor und die „Wir scheißen auf alles“-Attitüde lässt mich an die frühen CEREMONY und an TRASH TALK denken. Auch wenn die IDLES soundmässig damit nicht viel gemein haben, der Spirit ist der gleiche. Sänger Joe Talbot stampft wutentbrannt über die Bühne, sein Gitarrist spielt mehrere Songs mit einem schier endlosen Gitarrenkabel sogar in der Menge. Aus mir unersichtlichen Gründen verzichten die IDLES auf „Danny Nedelko“, sodass die Highlights für mich heute „Never Fight a Man With a Perm“, „Love Song“ und „Samaritans“ sind. Erwartungen erfüllt. Unbedingt nochmal, dann aber im Rahmen einer Clubshow! Und Glückwunsch an jeden, der früh genug gerafft hat, dass die Band das nächste große Ding ist und das noch in kleinerem Rahmen sehen durfte.

MUFF POTTER sind seit letztem Jahr nach 9 Jahren offiziell wieder eine Band und spielen dementsprechend ihren ersten Festivalsommer in einem Jahrzehnt. Ich selbst würde die Band trotz der Münsteraner Herkunft dem Sound der Hamburger Schule zuordnen, mit der ich mich erst in den letzten Jahren beschäftigt habe – im Gegensatz zu vielen meiner Gleichaltrigen. Sprich, KETTCAR, TOMTE oder eben die moderneren Ausleger einer ähnlichen Gangart (CAPTAIN PLANET, MATULA). Verglichen mit diesen Referenzband kommen mir MUFF POTTER etwas weniger ausgefallen daher, punkten jedoch mit ihren Ansagen. Sie seien keine Animationsband. Als Reaktion auf ihren Auftritt soll eben vom Publikum kommen, was da so kommt. Und vor der Bühne hat sich eine mächtige Traube alteingesessener Fans angesammelt, die treu alle Texte der Band mitsingt. Verglichen mit den Trauben anderer Bands an diesem Wochenende fällt diese hier sehr klein aus, aber der Hype ist eben auch schon seit geraumer Zeit um. Was sich da jetzt noch tümmelt, ist sozusagen ernst gemeint. Viele der Fans haben MUFF POTTER in ihrer Teenie-Zeit oder im jungen Erwachsenenalter gehört, viele davon wurden von der Band um Sänger Nagel durch prägende Zeiten begleitet – und das merkt man heute. Vor „Wenn dann das hier“ hält der Frontmann eine kleine Lobrede auf körperliche Zusammenkünfte wie Geschlechtsverkehr und merkt an, dass dieser Faktor in Liedtexten ganz schön kurz kommt – zumindest abseits der proletenhaften Form im Pop und im Hiphop. Außerdem lassen MUFF POTTER es sich nicht nehmen, das Gleis22 in Münster als eine der besten Locations des Landes hervorzuheben, die Region um das Southside mehrmals falsch als das Allgäu zu bezeichnen und Tipps für den weiteren Festivalverlauf zu geben (BLOC PARTY und DIE HÖCHSTE EISENBAHN soll man gucken). Auch erkundigt sich Nagel nach dem vorgestrigen Set von THE CURE, wozu ihm aber scheinbar niemand Auskunft geben kann. Mir bleiben als Nummern aus dem Set neben der oben erwähnten Nummer noch „Allesnurgeklaut“ und „Fotoautomat“ im Ohr. Bevor ich MUFF POTTER im August im Vorprogramm von KETTCAR sehe, sollte ich mich offensichtlich nochmal reinfuchsen.

Weil ich eine alte Loyalität zu der Band verspüre, schaue ich mir die erste halbe Stunde LA DISPUTE an. Die Band aus Grand Rapids, Michigan hat gerade mit „Panorama“ ihr neues Album veröffentlicht, das mir nach den ersten Durchgängen ähnlich öde und unspektakulär erscheint wie der Vorgänger „Rooms of the House“. Auch live bieten LA DISPUTE, wenn man sie ein paar mal gesehen hat, nicht wirklich Neues, außer die neuen Songs natürlich. Diese werden, wie auch das ganze Set, vom Southside-Publikum eher verhalten aufgenommen. Ob ich der Einzige bin, der den Zeiten von „Somewhere at the Bottom…“ hinterhertrauert? Jordan Dreyer erinnert sich an den Southside-Auftritt im Jahr 2012 und redet über das Nichtverschulden von verhedderten Mikrofon-Kabeln – ein begnadeter Texter, aber nicht wirklich ein begnadeter Redner. Zum Glück gibt es aber mit „The Castle Builders“, „Sad Prayers for Guilty Bodies“ und „New Storms for Older Lovers“ gleich drei aneinandergereihte alte Songs, bevor ich zu den WOMBATS rübergehe.

Diese eröffnen ihr Set gleich mit einem ihrer neueren Kracher namens „Cheetah Tongue“ vom letzten Album. Die drei Liverpooler waren zuletzt Anfang diesen Jahres auf Clubtour, aber auch in der Festivalsaison sind sie stets ein gern gesehener Gast auf den Bühnen des europäischen Festlandes. THE WOMBATS sind eine Bank in jeder Indie-Disco und haben die von vielen so genannte „goldene Zeit“ mit ihrem 2007 erschienen Debütalbum, auf dem sich auch ihre beiden größten Hits befinden, noch ordentlich mitnehmen können. „Let’s Dance to Joy Division“ und „Moving to New York” sind Evergreens auf den Tanzflächen und so verwundert es natürlich nicht, dass sich auch der Platz vor der blauen Bühne in einen riesigen Dancefloor verwandelt. Vom Riesenrad aus, mit dem ich zum Set der WOMBATS einige Runden drehe, sieht das sehr imposant aus. Dass am Sonntag nun endlich ganztägig die Sonne scheint, passt vor allem zu dieser Art von Musik sehr gut.

Ein weiterer der dieses Jahr eher spärlich gesäten Leckerbissen aus der goldenen Zeit des Indie-Rock spielt im unmittelbaren Anschluss: BLOC PARTY sind im zweiten Jahr in Folge auf spezieller „Silent Alarm“-Tour und spielen komplett, wenn auch nicht in chronologischer Reihenfolge, ihr Debütalbum runter. Viele Fans sind sich einig, dass das Debütalbum die beste Scheibe der Londoner ist. Auch ich sehe das so und habe mir die Band daher erst 3 Tage zuvor im Kölner E-Werk angesehen. Frontmann Kele wirkt wie immer sympathisch, während sein Leadgitarrist Russell Lissack den Blick ebenfalls wie immer gefühlt nicht ein einziges Mal nach oben richtet, sondern stets nach unten auf seine Gitarre. Die 2015 ersetzte Rhythmusfraktion aus Schlagzeugerin Louise Bartle und Bassist Justin Harris verleiht dem Set die notwendige Portion Tightness, sodass die auf dem Debütalbum so liebevoll untergebrachten Feinheiten im Songwriting alle gut rauskommen. Auch nimmt sich BLOC PARTY die Freiheit, manche Songs ein wenig umzuinterpretieren, so zum Beispiel „Compliments“ ein wenig gegenüber der Albumversion anzureichern. Kele variiert außerdem die Gesangszeilen an vielen Stellen ein wenig. Nach etwas weniger als einer Stunde ist „Silent Alarm“ durch, BLOC PARTY haben aber noch einige weitere Songs im Gepäck. Da ich die im E-Werk allerdings eher enttäuschend finde, gehe ich zu „Hunting for Witches“ rüber zur Red Stage.

Dort warten ME FIRST AND THE GIMME GIMMES auf mich, allerdings ist Fat Mike weit und breit nicht zu sehen. Spike Slawson von den SWINGIN UTTERS leitet wie eine Rampensau par excellence durch die wilde Punk-Cover-Gaudi, als er beispielsweise die machoartigen Männer vor der Bühne dazu anhält, zum nächsten Song ihre weibliche Seite mal zu betonen und rauszulassen. Zu Songs wie „Rocket Man“ und „I Will Survive“ ist natürlich allerorts mitsingen angesagt und gerade die älteren Kaliber haben sichtlich Bock auf ME FIRST AND THE GIMME GIMMES.

Festivals haben gegenüber Clubshows unter anderem den Vorteil, dass man sich Künstler reinziehen kann, zu deren Shows man normalerweise nicht gehen würde. So reihe ich mich gerne und ohne besondere Erwartungen in die sehr eng beieinanderstehende Masse vor der Green Stage, die gerade auf den Auftritt von ANNENMAYKANTEREIT wartet. Bisher wusste ich nicht ganz, wie ich dieses Phänomen der deutschen Popkultur einordnen sollte – als weichgespültes und seelenloses Boygroup-Pendant zu MAX GIESINGER und Konsorten oder als eine ernstzunehmende Band, die den Hype verdient? Eins steht fest: Als ich Henning May’s tiefe Stimme zum ersten Mal im Rahmen seines K.I.Z.-Features gehört habe, war ich direkt beeindruckt. So wie das vermutlich den meisten Leuten geht. Schon beim ersten Song „Marie“ wird klar: Letzteres ist der Fall. Diese Band hat nicht nur musikalisch verdammt viel drauf und stimmlich einen absoluten Ausnahmesänger, auch was den lockeren Vibe von ANNENMAYKANTEREIT und zugleich die für sich einnehmende Persönlichkeit von Frontmann Henning angeht, ist die Live-Show der Band aus Köln eine Erfahrung, die zu keiner Sekunde langweilig wird. Die teilweise sehr jungen weiblichen Fans sitzen oder stehen zuhauf auf anderen Schultern, um einen besseren Blick auf die Bühne zu erhaschen oder ihre Henning-Worship-Plakate weiter in die Höhe zu recken. Bis in die paarhundertste Reihe wird fast jeder Song wortgetreu mitgesungen, gerade natürlich Nummern wie „Pocahontas“ oder „Barfuß am Klavier“. Ein neues Lied präsentieren ANNENMAYKANTEREIT inmitten der Fans auf einem kleinen Plateau. Hierzu spielt lediglich Bassist Malte Huck, während die drei Namensgeber sowie Gastmusiker Ferdinand Schwarz aus vier Kehlen den Satz „Wenn du nicht mehr weist, wo du hin willst, komm zu mir!“ singen – fast schon ein bisschen beatles-like. Von vorne bis hinten ganz großes Kino. Ab jetzt bin ich Fan.

Kurz vor dem Finale des Southside Festivals stapfe ich noch kurz an der blauen Bühne vorbei, auf der STEVE AOKI gerade auflegt. Ein einziger Mann auf der Bühne, hinter einer riesigen Leinwand versteckt, mit Feuerwerk, Animationen und allem Pi-Pa-Po. Und ich denke mir nur: So müssen sich Festivals wie das Tomorrowland anfühlen. Und es ist absolut nicht meins. Wieso kann es dann also nicht dort bleiben? Mir ist und bleibt es schleierhaft, welcher Affenzirkus sich permanent von „one, two, three four“ und „left left left, right right right“ Animiationsquatsch bei der Stange halten lässt. Fürchterlich.

MUMFORD & SONS bilden dazu einen krassen Gegensatz, denn in Partylaune versetzen die meisten Songs der britischen Folk-Rocker nicht gerade – eher laden sie zu Schunkeln und Schwelgen ein. Eine ähnlich schöne und einzigartige Stimme wie zuvor Henning May besitzt auch Frontmann Marcus Mumford, sie verleiht den Songs das unverkennbare Gesicht und die notwendige Portion Gefühl, um einem Headliner gebührend zu sein. Zu meiner Überraschung gibt es „Little Lion“ Man, der die Band vor 10 Jahren berühmt gemacht hatte, gleich als zweiten Song nach „Guiding Light“ zu hören. Es folgen eine Menge neue Songs der letzten beiden Alben „Delta“ (2018) und „Wilder Mind“ (2015), die ich gar nicht verfolgt habe. Im Gesamten fällt das Set der MUMFORD & SONS jedoch sehr ruhig und harmonisch aus. Neben Mumford’s charismatischer Stimme verleihen Banjo und Kontrabass fast allen Liedern den für die Band charakteristischen Sound. „I Will Wait“ in der Zugabe-Sektion ist für mich dann der krönende Abschluss eines außerordentlichen musikalischen Wochenendes.

 

Generell lässt sich über das Southside 2019 sagen, dass ein sehr gemeinschaftlicher Vibe zu spüren war. Sehr viele Bands forderten die Fans dazu auf, eine ihr fremde Person in den Arm zu nehmen oder auch in die Welt außerhalb des Festivalgeländes Liebe und Gemeinschaft herauszutragen. Noch mehr Bands wurden vom Southside-Publikum mit einem durch beide Hände geformten Herz für ihre tollen Performances belohnt. Schön war es außerdem zu sehen, wie viele weibliche Musiker diesmal auf das Line-Up gebucht wurden und mit ihren Performances auf ganzer Linie überzeugen konnten. Das Southside macht vieles richtig – anders lässt es sich nicht erklären, dass dann gerade mal eine Nacht nach dem Ende des Southside 2019 schon die erste Preisstufe für 2020 ausverkauft ist – das sind immerhin 10.000 Tickets. Ein erster Headliner steht auch schon: SEEED aus Berlin.