Es ist Herbst, lang lebe der Sommer. Denn noch ist es gefühlt Sommer, auch wenn die Tage kürzer werden. Und auch die Festivalsaison ist noch nicht ganz vorbei. Zumindest nicht an diesem Wochenende in Hamburg. Es ist T- Shirt- warm bis tief in die Nacht, die lediglich ein wenig früher beginnt als sonst für Festivals üblich. In Hamburg findet an diesem Wochenende das Reeperbahnfestival statt. Zum einen öffnen diverse Hamburger Clubs für Konzerte ihre Türen, zum Anderen gibt es Kunst an sämtlichen vor- und unvorstellbaren Orten und natürlich die Konferenz zu digitialen Medien, Spielen und dergleichen mehr. Die Stadt griff dem Festival finanziell auch ordentlich unter die Arme. Doch ein Schelm, wer meint, das Ganze fände nur auf der Reeperbahn statt. Die teilnehmenden Verantsaltungsorte erstrecken sich von der Innenstadt über die Schanze bis auf (!!!) die Elbe. Da kann man einiges an Kilometern hinter sich bringen, wenn man diesen Sport ernst nimmt. Wir sind das in diesem Jahr relativ entspannt angegangen.
Mittwoch, 17.09.2014
Nach dem Check In mit freundlichstem Handshake von Menschen mit denen man in den letzten Monaten lediglich per Mail korrespondiert hat, stürtzt man sich hinein ins Getümmel. Um die 400 Konzerte könnten besucht werden. Vorrausgesetzt, man kann sich teilen, klonen oder einfach nur schnell rennen. Doch wir wollten es ja entspannt angehen.
TALKING TO TURTLES @ N- Joy Bus
Einer der letzten Spielorte, an denen auch der gemeine Hamburger ohne Festivalbändchen in den Musikgenuss kommen kann, steht auf dem dem Spielbudenplatzund man kann mit einem entspannten Bierchen den TALKING TURTLES lauschen. Sie klingen wie erwartet wunderbar sanft, bezaubernd und klar. Gitarre und Keyboard in der aufziehenden Nacht. Es wird andächtig gelauscht. Der Andrang ist recht groß, auch wenn man von hinten nicht so viel von der Bühnensituation mitbekommt, kann man sich die ersten Biere des Festivals schonmal schmecken lassen.
KAPELLE HERRENWEIDE @ Spielbude
Früher konnte man Bands auf dem Spielbudenplatz grundsätzlich noch ohne Festivalbändchen lauschen. Dem hat man in diesem Jahr einen Riegel vor, bzw. die beiden Bühnen, die sonst auf den gegenüberliegenden Enden des Platzes stehen, zusammengeschoben. Schade. Dort betreten nun jedenfalls KAPELLE HERRENWEIDE die Bühne. Ein Haufen Menschen mit einem Haufen Instrumenten und noch mehr Polkafolkspaß unterm Arsch. Mit fliegendem Instrumentenwechsel an Quetschkomode, Trompete und Gitarre geht es sehr schwungvoll zur Sache. Das Temponiveau können sie heute problemlos halten, laden zu Polka und anderen volkstümlichen Tänzen ein, vor allem schaffen sie es so schnell, den Sicherheitsabstand zum Publikum zu verringern. Verstärkt werden sie heute von einer Posaune und so ist man gerade richtig gut in Fahrt, als das kurze Konzert schon vorbei ist. Festival eben.
Donnerstag 18.09.2014
Es ist schon schwer, sich im Wust der Bühnen und Clubs zurrechtzufinden, selbst für Ortskundige. Und so verpasst man leider DIE NERVEN, weil man einfach an der falschen Bühne wartet und sich wundert. Andererseits konnte man so noch ein bisschen die Nase in die Sonne halten und den Sonnenuntergang und die Kunst am Bauzaun um die Grube der Essohäuser bewundern, bevor es einen in schwitzige Clubs zieht.
TEAM ME @ Knust
Vor allem liegt die nächste Station schon ein gutes Stück abseits der Reeperbahn. Doch für TEAM ME lohnt sich bekanntermaßen jeder Aufwand. Und so liefern diese auch ein wundervolles Konzert im gut gefüllten Knust ab. Die abfeierwilligen Fans werden zu Beginn noch ein wenig von den WDR- Kameramenschen auf Abstand gehalten, doch als diese weg sind, gibt es kein halten mehr. TEAM ME spielen sich zauberhaft, feinfühlig und selbstbewusst durch ihr Set. Selbst in den hintersten Reihen des Publikums scheinen sich die Herzen und Mundwinkel zu heben. Im Winter soll das neue Album erscheinen und so mischen sich unter die altbekannten Songs auch immer wieder ein paar neue, die Großartiges ankündigen. Die einzelnen Miglieder der Band treten zunächst noch zurückhaltend und verhalten dankbar auf, doch gegen Ende gibt es auch für sie kein Halten mehr. Man geht auf Tuchfühlung mit dem Publikum, sucht Nähe und spielt sich dabei wohl noch mehr in die sperrangelweit geöffneten Herzen. Nach diesem kleinen Ausflug bedankt man sich artig und verschwindet leise, aber umjubelt von der Bühne. Das Publikum bleibt mehr als befriedigt zurück und notiert hoffentlich schon das kommende Album auf der Wunschliste.
HAUSCHKA @ Mojo Club
HAUSCHKA ist so ein Name, den man schonmal in positiven Zusammenhängen vernommen hat, aber ständig die Verbindung vergisst. Heute kann man also sein eigenes Erlebnis mit ihm kreiern. So wandelt man nach TEAM ME leicht verklärt zurück auf die Reeperbahn und betritt den sagenumwobenen Mojo Club durch die immer schon faszinierende Batmaneingangskonstruktion. Einmal mehr ist man beim Abtauche in diesen Club ist man von der Architektur und dem Wundermaterial Stahlbeton vollkommen eingenommen. Als dann HAUSCHKA die Bühne betritt und eine kleine Anektdote über den alten Mojo Club zum Besten gibt, ist man mit der Tagesdosis Kultur eigentlich schon drüber. Doch man bleibt und ist fasziniert. HAUSCHKA musiziert hier nämlich hauptsächlich mit einem Flügel und nur einem klitzekleinen Bisschen Synthie. Doch so ganz einfach ist das doch nicht. Denn was ein Flügel macht, wenn man haufenweise Gedöns auf die Saiten im Inneren schmeißt, kann man im Folgenden erhören. Man muss auch nicht immer alles verstehen oder in Worte fassen, doch das, was da erklingt, klingt eher nach computergenerierter Musik vom Feinsten, nicht nach Flügel meets Schrott. Der klassische Flügelsound bleibt streckenweise dennoch erhalten und spinnt sich zusammen mit dem unerwarteten zu einem fantastischen Soundteppich. Es gibt nichts, was es nicht gibt. So wippt vorsichtig der Fuß, während der Kopf andächtig lauscht und die Gedanken treiben dahin bis das Konzert vorbei ist und man selbst ins Bett treibt.
Freitag 19.09.2014
GOLDEN KANINE @ Indra
GOLDEN KANINE waren vor gar nicht allzu langer Zeit in Hamburg. Als man heute das Indra betritt, kann man schon erahnen, dass das heute ein sehr guter Abend wird. Auf der Bühne sind alle Inventarien aufgebaut, die GOLDEN KANINE für ihre Vollbesetzung brauchen, inkl. der Bläser, die beim letzten Auftritt leider fehlten. Während sich draußen der übliche Kiezfreitagabendwahnsinn mit dem Reeperbahnfestival multipliziert, starten die Schweden ihre mitreißende Show. Heute mit erwähntem Gebläse in Form von Baritonsaxophon und Trompete. GOLDEN KANINE laden zum Tanzen und in der ersten Reihe zappeln sich die Paulifans ihren Verlustfrust (0:3 geschlagen) von der Seele. GOLDEN KANINE wissen zu begeistern und erzeugen im Indra schnell unmenschliche Temperaturen, bei denen an Bewegung eigentlich nicht mehr zu denken ist. Sie tun es aber trotzdem, sich bewegen, alle. Und so bleibt man mehr als nassgeschwitzt nach einem wundervollen Konzert zurück, als die Zeit für GOLDEN KANINE für heute abgelaufen ist.
BILDERBUCH @ Gruenspan
Warum hat man sich diese Band nochmal ausgesucht? Man weiß es nicht. Man zuckt zusammen, als die vier Herren die Bühne betreten und aus dem Publikum ein Kreischen zu hören ist, welches einer großen Boygroup würdig wäre. Dementsprechend ist das Gebahren auf der Bühne. Man wirft sich in Pose, nicht in Schale, koketiert mit Körper statt mit Geist und ist der Held vom Erdbeerfeld. Dazu Musik zwischen, Punk und Hiphop, in einer Qualität, dass sich einem die Zehennägel hochrollen. Nach drei Songs ist Flucht angesagt.
GROENLAND @ Neidklub
GROENLAND wurden bereits im Vorfeld des Festivals unter der Hand als der Geheimtipp gehandelt. So erwartet man einen brechend vollen Club, als man vom Schlachtfeld um BILDERBUCH, nach einem Sprint über den Kiez, kurz nach Beginn des Konzerts ankommt. Doch dem ist nicht so. Der Neidklub ist zwar gut gefüllt, aber nicht rappelvoll. Auf der improvisierten Bühne ist von Geige über Cello, Gitarre, Keys und Drums alles zu finden. Lediglich der Bass fehlt, doch das fällt im Folgenden nicht auf. Der Sicherheitsabstand zu Sabrina Haldes unfassbar souliger Stimme wird anständig gewahrt. Klang und Gesang nehmen aber schnell vom Raum Besitz. Die Zuhörer lauschen deim feinen Indiepop andächtig, wanken mit der Musik und wieder einmal kann man sich verzaubern lassen. Viel Zeit zum Genießen bleibt aber nicht, denn eigentlich ist man viel zu freudig gespannt auf das folgende Konzert. Deshalb gibt es abermals einen flotten Sprint durch die feierwütige Menge zurück in Richtung Große Freiheit.
MATULA @ Kaiserkeller
Vom hellen Neid hinunter in die Düsternis des Kaiserkeller kann es ziemlich schnell gehen. MATULA stehen auf dem Plan und treten gut erzogen relativ pünktlich auf die Bühne. Direkt und ohne Vorwarnung geht es los. Wie immer Postpunk at it´s best. Während die vorrangegangene Band noch ihr Equipment durch die erste Reihe wegschleift, rutschen die Hosen von MATULA wieder in Punkposition. Der Kaiserkeller ist unverdient luftig gefüllt, MATULA dafür umso sympathischer. Geschichten vom Land und aus der Stadt werden zwischen den Sturm- und Drangsongs zum Besten gegeben. Alte Lieder von „Blinker“ bis „Auf allen Festen“. Sie sind in Höchstform und erfreuen verschwitzte Herzen. Geschenke haben sie auch mitgebracht. Und so möchte man den Abend mit dem Abklingen der letzten Töne der ergaunerten Zugabe beschließen, obwohl nebenan LOVE A sicherlich auch noch ganz hörenswert wären.
Samstag 20.09.2014
Love & Hatemaillesung @ Reeperbahnfestival Lounge
Gestartet wird heute mit einer Lesung, denn die gibt es auf dem Reeperbahnfestival auch. Thema: Love & Hatemail. Gelesen werden Netzfundstücke, Äußerungen und Kommentaren von so manch einem Wesen, dass sich im Internet zu mehr oder weniger schlauen Äußerungen hinreißen lässt. Worüber man sonst am liebsten weinen oder vor Scham im Boden versinken möchte, wird heute auf die Bühne und in die Lächerlichkeit gezogen. Das Publikum sitzt dabei in Sesseln oder auf Pappkartons und die ein oder andere Lachträne wird aus dem Augenwinkel gewischt. Die Lesenden sind auch keine Unbekannten. Autorin Kathrin Weßling, Poetryslammerin Johanna Wack und Clubkindergründervater Jannes Vahl liefern sich einen flotten Wortwechsel und bekommen es nicht so ganz hin, nur zu zitieren, sondern müssen dort und hier auch mal einen eigenen Kommentar einstreuen, was das Ganze nur noch lustiger macht. Der Knoten um Bauch hat sich jedenfalls gelöst. DA Samstagabend der übliche Kiezkrieg seinen Höhepunkt erreicht, begibt man sich heute bereitwillig in ruhigere Gefilde und lässt die Reeperbahn hinter sich. Auch andere Straßen haben schöne Spielorte.
INVSN @ Uebel & Gefährlich
Mit dem Fahrstuhl geht es im alten Bunker am Heiligengeistfeld hinauf in den vierten Stock. Der Handyempfang stockt hinter den dicken Stahlbeton Wänden. Im Uebel & Gefährlich duftet es gefährlich nach Lilien, die unter den Kronleuchtern auf dem Thresen stehen. Es könnte so einladend sein. Doch die Düsternis tritt auf die Bühne, passend zum Lilienduft. INVSN aus Schweden machen erstmal das Licht aus, viel Nebel an und dann wieder ein kleines bisschen Licht an. Von hinten. Gesichter? Fehlanzeige. Irgendwas schwarzes hat der Sänger, der eigentlich als Dennis Lyxsén erkenntlich sein sollte im Gesicht und dann geht es los. Es bleibt auch musikalisch Düster, selbstherrlich und nicht wenig unsympathisch. Man rollt sich durchs Set, demonstriert, was man an den Instrumenten und in den Hüften drauf hat. Ebenfalls das Engagement für schwedische Kleinstädte wird selbstherrlich erwähnt. Danke. So recht will der Funke nicht überspingen. Die Ansagen zwischen den Songs manifestieren dieses Gefühl. Selbst als Dennis Lyxsén die Bühne verlässt und auf Balustraden in Richtung Publikum balanciert, springt der Funke nicht so recht über. Das Publikum wirkt ergriffen, aber abfeiern sieht auch anders aus. Herr Lyxsén kann zum Glück auch anders, doch nicht heute und nicht in diesem Zusammenhang. Wie war das noch bei REFUSED und THE (INTERNATIONAL) NOISE CONSPIRACY? So ist das wohl, wenn man sich mal so richtig getäuscht hat. Enttäuscht.
SCMUTZKI @ Clubheim St. Pauli
So freut man sich über ein wenig Beleuchtung, als man wenig später am Stadion vorbei in Richtung Clubheim des FC St. Pauli spaziert. Ein wenig frische Luft. Das Clubheim wirkt wie eine Kneipe, in die sich eine Bühne verirrt hat. Diese entern recht schnell SCHMUTZKI und schmeißen gleich mit dreckigem Sound, akkustischen Arschtritten und veranlassen sogar das Thekenpersonal, Zapfanlage Zapfanlage sein zu lassen und ein bisschen zu tanzen. Dem Namen alle Ehre machen. So sieht funktionierenden Punkrock aus. Und wie gut, dass er hier am Fuße dieses Stadions zelebriert wird, wo die selbst die Kacheln auf der Toilette das Vereinslogo eingebrannt haben. Arsch auf Eimer, wie man im Volksmund so schön sagt. Ein wenig Selbstdarstellung und Scherzereien dürfen nicht fehlen und so rauscht der ein oder andere Punk an einem vorbei. Wunderbar! Herrlich! Fulminant! Eventuell sollte man doch das ein oder andere Konzert der kommenden WIZO Tour besuchen. Wegen der Vorband. Das Shirt ist abermals durchgeschitzt, falls man denn eines anbehalten hat und so freut man sich anschließend über die kühle Spätsommer-/Frühherbstnacht, die einen draußen in Empfang nimmt.
TALISCO @ Knust
Und selbst wenn man nur Zeit totschlagen möchte, stolpert man in ein wunderbares Konzert. Auf der Bühne im Knust haben TALISCO bereits angefangen und man wird von einer begeisterten Menge empfangen, deren Mundwinkel sich am Hinterkopf treffen würden, wenn man jedem die Ohren abschrauben könnte. Auf der Bühne freut man sich offensichtlich ebenfalls über so viel nordische Herzlichkeit und spielt feinsten Indierock. Komplettes Kontrastprogramm zu SCHMUTZKI. Bass scheint man heutzutage im Indie nicht mehr zu brauchen. Gitarre, Synthie und Drums tun ihren Job auch so. Fantastisch kann das klingen. Auf jeden Fall im Falle von TALISCO, die wissen wie es geht. Langsam gehen einem die Worte aus und man kann sich nur über den Glücksgriff Zufall freuen. So schiebt man sich in die erste Reihe um noch mehr dieser feinen Musik zu erhaschen und könnte das Festival an dieser Stelle beschließen und es ein gutes bleiben lassen.
EINAR STRAY ORCHESTRA @ Knust
Ein bisschen will man aber noch durchhalten. Mindestens um sich einen guten Gute- Nacht- Song abzuholen um sich darauf nach Hause zu träumen. Und diesen liefern wie immer in allerfeinster bester Manier EINAR STRAY und sein ORCHESTRA. Da bleibt einem erwartungsgemäß die Spucke weg und von so viel wunderbarer Feinfühligkeit und musikalischem Zucker könnte man Karies in den Ohren bekommen. Indiefeinpop mit Geige und Cello und Klavier, bunten Socken und schwarzen langen Kleidern. So wundervoll, dass man es dabei belässt.
Genussvoll war das diesjährige Reeperbahnfestival mit Sicherheit wieder einmal. Für das nächste Jahr steht es auch schon wieder auf dem Plan. Als Abschluss für den Sommer und Startschuss für den Herbst, zwischen Open Air und als Einstimmung auf die Clubkonzertesaison. Diese Übergangsjacke passt ganz ausgezeichnet. Und auf dem Weg nach Hause sagt man leise Danke zum Sommer.