05.11.2019: THRICE, REFUSED, PETROL GIRLS – Hamburg – Große Freiheit 36

08.11.2019
 

 

Es wird wieder gecoheadlined: Die schwedischen Jazzhardcorerevoluzzer REFUSED verbünden sich mit den Soundchamäleons von THRICE und haben zudem noch die Österreichisch-Britische Polittanzcoreband PETROL GIRLS im Schlepptau.

Kalt, nass, Hamburg. Soweit alles wie gewohnt. Etwas ungewohnter (aber zunehmend im Trend) sind Konzerte, bei denen die klassische Vorband/Hauptband-Rollenverteilung aufgebrochen wird und zwei Bands ungefähr gleichen Ranges gleichberechtigt nebeneinander stehen. Gut für den Zuschauer, bekommt er so praktisch zwei vollwertige Sets zu sehen. Die Kombination THRICE / REFUSED liest sich auf den ersten Blick etwas seltsam und wirkt auch später nicht wirklich stimmig. Dem hochpolitischen und aufwiegelnden Hardcore von REFUSED steht gesetzter Alternative Rock von THRICE gegenüber. Weder musikalisch noch inhaltlich gibt es da offensichtliche Überschneidungen.

Aber warum belanglosen Fragen nachhängen, wenn man sich ebenso gut einfach über einen vielversprechenden und abwechslungsreichen Abend voller guter Musik freuen kann. So sehen das auch die PETROL GIRLS, die pünktlich um 19:30 Uhr eröffnen dürfen. Den Status als Geheimtipp dürfte die ausgesprochen feministische Band bereits hinter sich haben. Ihr Post-Hardcore ist schwer groovend, leicht vertrackt aber immer tanzbar und kommt an diesem Abend in wunderbar dickem Sound daher. Sängerin Ren hat zwischen den Songs so einiges zu sagen: Sie ruft zu Solidarität mit Rojava (multiethnisch-autonome Region in Syrien) auf, sie beschwört die Kraft der Revolution und berichtet dann auch noch davon, dass sie aktuell zusammen mit mehreren anderen Frauen von einem britischen Rapper wegen Verleumdung angeklagt ist, weil sie sich öffentlich über sexuelle Übergriffigkeiten seinerseits beschwert hatten. Die Welt kann ein beschissener Ort sein. Bei all dem Verdruss lassen PETROL GIRLS, bei denen übrigens Zock (seines Zeichens Sänger/Gitarrist bei den in Auflösung befindlichen Austro-Punks ASTPAI) am Schlagzeug werkelt, wenigstens ordentlich die Sau raus und Sängerin Ren schreitanzt sich den Frust von der Seele. Die Texte lassen wenig Interpretationsspielraum und bilden zusammen mit der musikalischen Basis eine hervorragende Brücke zu den Geistesbrüdern von REFUSED. Sehr starker Auftritt, demnächst sicher nicht mehr als Vorband.

Wer auch immer für den zeitlichen Ablauf an diesem Abend verantwortlich ist, er versteht sein Handwerk. Um Punkt 20:30 Uhr ist die Bühne dunkel, es läuft ein atmosphärisches Intro und REFUSED brechen mit „REV001“ (vom aktuellen Album „War Music“) los und schieben direkt „Violent Reaction“ vom selben Album hinterher. Dennis Lyxsén erinnert dank Baret und Sakko zu diesem Zeitpunkt noch auf verstörende Weise an Klaus Meine, seine Rampensauskills, die er ab der ersten Sekunde voll auslebt, wischen aber alle Zweifel beiseite. Ehrlich: Wer sehen möchte, wie viele Variationen es von Mikro-in-die-Luft-schmeißen-und-wieder-auffangen gibt, sollte sich die Schweden mal live ansehen. Natürlich nicht nur deswegen, denn REFUSED haben sich 1998 mit dem Hardcore-Jazz-Punk-Meilenstein „The Shape Of Punk To Come“ samt anschließender Auflösung ihren Legendenstatus zementiert. Von jenem Album bekommt das Hamburger Publikum nun „Worms Of The Senses / Faculties Of The Skull“ vor den Latz geknallt. Doch obwohl Lyxsén und Band wirklich alles geben und unfassbar druckvoll spielen, steht die Masse noch wie mit angezogener Handbremse da und will sich noch nicht so richtig mitreißen lassen. Das ändert sich erst, als es Lyxsén zu bunt wird und er kurzerhand ins Publikum springt, um den zurückhaltenden Nordlichtern in den Allerwertesten zu treten. Mit Erfolg: Plötzlich ist bei Songs wie „Rather Be Dead“, „Coup d’état“ (beide von „Songs To Fan The Flame Of Discontent“) oder „Malfire“ viel Bewegung vor der Bühne. Die Setlist ist bunt gemischt und berücksichtig bis auf das Debüt alle Alben, wobei die Songs von „The Shape…“ die größte Resonanz erzielen. So auch „The Deadly Rhythm“, das zustäzlich in der Mitte das Riff aus SLAYERs „Raining Blood“ eingebaut bekommt. Man merkt: Die Band ist maximal eingespielt und bietet eine nahezu perfekte Rockshow. Und auch ihre revolutionäre und radikal antikapitalistische und antifaschistische Einstellung haben die Schweden nicht abgelegt, was mehrere deutliche Ansprachen von Lyxsén klar machen. Wie das mit den gesalzenen Merchpreisen von 30€ pro Shirt zusammenpasst, vergisst er allerdings zu erklären. Alles egal, sobald das unverwechselbare Gitarrenintro aus „New Noise“ ertönt. Ein Überhit (dessen kommerzieller Erfolg der Legende nach verantwortlich war für die zwischenzeitliche Auflösung), der wie dazu geschaffen ist, eine Show abzuschließen: Spannungsaufbau, verzögerter Ausbruch, dann Abriss. Und wieder von vorn. Und dann wieder Abgehpart. Der finale Ausbruch wird nochmal herausgezögert, Lyxsén fragt zur Sicherheit nochmal beim Publikum nach, ob es weitere 45 Sekunden durchhalten kann, es kann, es folgt der allerletzte große Knall, dann ist alles vorbei. Exakt 60 Minuten großartige Performance lösen sich auf in „…the new Beat! … the new Beat! … the new Beat! … the new Beat! … the new Beat!“ Für eine leichte Gänsehaut an dieser Stelle muss sich niemand schämen.

Um genau 22 Uhr (natürlich) legen THRICE quasi als Antithese zu den bisherigen Auftritten an diesem Abend los und steigen mit „Only Us“ vom aktuellen Album („Palms“) ein. Keine Ansage, wenig Bewegung, dafür aber routiniert bis in die Haarspitzen. THRICE haben in ihrer langen Karriere schon mehrere Soundwandel durchgemacht: Vom wilden, aber immer hittigen Emocore der Anfangstage (mach einer sprach damals von „Maiden auf Skateboards“), über eine experimentelle Phase samt mehrteiligem Konzeptalbum hin zum gemäßigten, aber immer noch intensivem Alternative der letzten vier Alben. An diesem Abend wird die Frühphase größtenteils vernachlässigt, wobei das walzende „Silhouette“ („The Artist In The Ambulance“) an dritter Stelle eine Ausnahme bildet, sich dabei aber live hervorragend einfügt. Zu verdanken ist das hauptsächlich dem angenehm dicken und basslastigen Sound an diesem Abend, der trotzdem keine Details verwäscht. Und natürlich der Tatsache, dass alle Vier inzwischen zu hervorragenden Musikern gereift sind, die alle Songs mit unnachahmlicher Souveränität vortragen und die unterschiedlichen Soundphasen wie aus einem Guss klingen lassen. An dieser Stelle muss auch die Wandlung von Dustin Kensrue erwähnt werden: Früher ein Schreihals unter vielen, heute Ausnahmesänger und Stimmenunikat. Das Set wird mit „Just Breath“ („Palms“) fortgeführt, im Anschluss überrascht das harte „The Arsonist“ („The Alchemy Index“) etwas, der harsche Ausbruch wird aber durch den gefälligen Refrain abgemildert. Apropos: Das geschickt mittig ins Set platzierte „The Artist In The Ambulance“ lässt den halben Saal (also alle, die THRICE noch aus ihrer Frühphase kennen) den kompletten Text ihres vielleicht größten Hits mitsingen. Die zweite Hälfte gehört den eher ruhigeren Songs wie „Doublespeak“ und „In Exile“ (beide „Beggars“) oder „The Windows“ und „Black Honey“ (beide „To Be Everywhere Is To Be Nowhere“). Gerade diese Songs lassen wiederum die andere Saalhälfte schwärmen und zeigen, was für ein breites Publikum sich THRICE über die Jahre erarbeitet haben. Kurz vor Schluss wird es dann nochmal laut und krachig, wenn „The Earth Will Shake“ („Vheissu“) tonnenschwer intoniert und beinahe beim Namen genommen wird.  Den versöhnlichen Abschluss bildet wenig überraschend das verträumte „Beyond The Pines“, welches auch den Rausschmeißer auf dem aktuellen Album gibt. So schön bedächtig die letzten verhallten Zeilen von Sänger Dustin Kensrue ausklingen, so abrupt wird die Frage nach einer möglichen Zugabe durch plötzliches Licht und laute Musik vom Band beantwortet. Sehr schade um die zuvor aufgebaute Atmosphäre, aber wohl beabsichtigt, um das Publikum gar nicht erst Hoffen zu lassen, es würde noch irgendwie weiter gehen (Nein, kein „Deadbolt“).

Die Bilanz an diesem Abend ist absolut ausgeglichen: 60 Minuten wilder Rockshow mit Hardcoreattitüde von REFUSED stehen 60 Minuten souveräner Best-Of-Darbietung von THRICE gegenüber. Der Award für die größte Intensität geht klar nach Schweden, während sich die Texaner den Preis für maximale Abgezocktheit und Fanservice sichern. Den PETROL GIRLS ist dafür der Titel als arschtretenste Band mit inhaltlicher Integrität nicht zu nehmen.