Kontemplation, das ist ja mal klar, kann etwas sehr Schönes sein. Einfach mal beobachten, die Gedanken schweifen lassen, besser: lauschen. Mit geschlossenen Augen entgegengesetzt zur Fahrtrichtung in der Bahn sitzen („Ausstieg in Fahrtrichtung links“), in Gedanken alle unkitschigen Lieder archivieren, die jemals über das menschlichste aller Konstrukte, die Liebe nämlich, geschrieben wurden und aus jeglichen anfallenden Umgebungsgeräuschen einen Sinn destillieren, der sich eben nicht auf pure Überforderung reduziert. THE UNWINDING HOURS sind in der Stadt. Wie schön und erhaben das enden würde, konnte ja keiner ahnen. Gestandenen Männern mit übernatürlich dichtem Bartwuchs schlottern die Knie, Frauen steht das breiteste Euphoriegrinsen ins Gesicht geschrieben (für immer?), wenn Craig B. mit watteweicher Stimme, äußerst reduzierten Ansagen und einer Band (nicht in der Hinterhand, sondern als weiterer, höchstwichtiger Akteur) Operationen am offenen Herzen durchführt. Die (natürlich) glücken. Wie sollte es auch anders sein. Dazu haben die Schotten, die ja bekanntlich zu Teilen einmal AEREOGRAMME waren, das schönste aller erdenklichen Vor-Sommer-Wetter mitgebracht. Die meterdicke Hitze in der Werkstatt zu Köln sollte ihnen jedoch nicht angelastet werden.
Muss wohl die schottische Zurückhaltung sein. Craig B. jedenfalls haucht nur das Nötigste in breitestem schottischem Akzent in sein Mikrophon, als er und seine UNWINDING HOURS diesen einen schlecht klimatisierten Laden in Köln bis zum Bersten füllen mit samtweicher Atmosphäre und zurückhaltender musikalischer Perfektion. Das Nötigste reicht jedoch auch völlig aus. Es ist beinahe erschreckend wie und was hier alles sitzt. Der adrett gekleidete Sänger trifft jeden Ton, die Band behält den Überblick im Effektgerätewirrwar, die Gratwanderung zwischen Pathos und gerechtfertigtem Lebensernst gelingt punktgenau. Als wollten sie den gradlinigen Popsong entwaffnen, indem sie ihn völlig ironiefrei weiterdenken, ausstaffieren mit Keyboardflächen und einer Form von Prosa, die bei anderen Bands als mindestens schmierig goutiert würde. Nicht so hier. Menschen (nicht wenige), die teilweise AEREOGRAMME gefolgt sind, allerdings scheinbar auch viele, die einfach der Qualität des Debütalbums nicht widerstehen konnten. Ist in Ordnung, dürft alle mitkommen.
So, oder zumindest so ähnlich hat sich das Ganze dann zugetragen. Man verzeihe eventuelle affirmative Schweinereien. Der Autor ist ja auch nur ein Mensch. Wo soll man anfangen? Was macht Sinn? Wohin führt das alles? THE UNWINDING HOURS entscheiden sich dafür, die Dinge ein wenig umgekrempelt anzugehen. Die Band startet mit 'The Final Hour', auf dass jede Zuhörerin / jeder Zuhörer direkt zu Beginn die Waffen der eventuellen Voreingenommenheit streckt. So macht man Menschen geschickt mundtot. Die Stille ist wirklich ohrenbetäubend. Dann dieser eine Teil, der uns alle wieder zurückholt und der so ein bisschen weh tut in den Ohren. Die Band spielt ihr Debüt in Gänze, mit Stil und einer nicht angeberischen Perfektion, die reines Konservehören mal sowas von obsolet macht. Es geht wirklich Schlag auf Schlag, wenn natürlich (rein motorisch) recht wenig geschieht. Sachen, Dinge, Gedanken, Wünsche, Träume, Hoffnungen, Gefühle – falls es sowas alles gibt – geschehen in uns, Craig B. ist das Medium. Schluss mit diesem feierlichen Ernst? Mit diesem Metaphysik-Quatsch? Ok. Ist ja gut. 'Tightrope' lässt einen in seiner perligen, schwerelosen Vortragsweise durchatmen, 'Peaceful Liquid Shell' wirkt mindestens so entrückt und ausufernd wie auf dem Album, wenn nicht gar größer (wie überhaupt hier alles größer erscheint, ganz ohne Effekthaschereien). Nach vielen weiteren, schlichtweg glasklaren und einfach wunderschönen Momenten, dem Finale von 'There Are Worse Things Than Being Alone' zum Beispiel, aufrichtiger Bodenständigkeit von Seiten der Band, darf schließlich jene Zeile die Köpfe und Herzen der Anwesenden durchwandern, die so exemplarisch, beinahe aphoristisch, steht für THE UNWINDING HOURS und ihr noch junges Werk: „We can…We will…We must get out…“. 'Knut' jedoch ist, und das muss der Band wirklich hoch angerechnet werden, die hier Atmosphäre auf einem schwindelerregend hohen Niveau aufrechterhält, nicht zwingend DAS Highlight des Abends. Überwältigt von so viel Gastfreundschaft und dem unbedingten Willen, stille Momente nicht zu zerstören, lassen sich die Schotten dann glatt zu mehreren Zugaben hinreißen. Es gibt Akustisches sowohl aus dem THE UNWINDING HOURS- als auch AEREOGRAMME-Portfolio sowie ein abstruses Cover, das zum einen beweist wie gut Craig B. eigentlich auch ohne seine Band funktioniert, zum anderen jedoch zeigt, wie viel von dem Mehr an THE UNWINDING HOURS der Restband geschuldet ist. Hört sich paradox an? Wir sind nicht in der Welt für eindeutige Antworten…
Myriaden von UNWINDING HOURS-Ultras treten schließlich ins kühle Halbdunkel, um ihren Lebensmenschen später etwas sehr Existentielles mit auf den Weg zu geben. Danke für diesen Abend. Danke für die Stille. Danke für das respektvolle Schweigen. Jetzt mit der Bahn zurück. Die Augen geöffnet in Fahrtrichtung. Weil man auf einmal vieles weiß.