Moderner Kannibalismus – oder wie ich anfing mich selbst zu fressen

03.08.2011
 

 

Schamlos nutze ich einfach noch einmal unsere Blog-Sektion für etwas unmusikalisches. Der moderene Kannibalismus - eine absolut unautobiographische Geschichte über das Leben im Jetzt.

Die Stadt zerfrisst mich. Es begann schleichend, ohne, dass ich es merkte – jedoch mit Vorwarnung. Die Zeichen erkennt man natürlich – wie sollte es anders sein – immer erst dann, wenn es schon viel zu spät ist. Es ist diese Stadt, die mich handeln lässt. Sie steuert mich. Jeden Schritt. Meine Gedanken. Mein Sein und auch mein nicht Sein. Sie ist der Knotenpunkt. Der Teufelskreis um die eigene Achse.

Ich stehe morgens auf. Drücke in völliger Lethargie und mit noch geschlossenen Augen den Knopf der Senseo-Maschine. Gerade rechtzeitig schleppe ich mich ins Bad. Ich pinkle. Es gab schon Tage, da habe ich diesen Weg nicht hinter mich gebracht, bin während des Drückens auf den Knopf der Senseo-Maschine wieder eingeschlafen und hab einfach laufen lassen. Die Sauerei war mir egal. Mich traf keine Schuld. Der Sündenbock ist diese Stadt. Wenn ich es aber doch ins Bad schaffe, lehnt mein Kopf – während des Urinverlustes – an den kalten Fliesen. Zeit, die Ordner neu zu strukturieren und den Papierkorb zu leeren. Ground Zero. Ein neuer Tag. Ich schlafe dabei meistens wieder ein. Und werde von der Schlummerfunktion meines Weckers unsanft aus meinem ersten Tagtraum gerissen. Irgendwo in mir schallt es nach peinlich berührter Stille: „Jaja, so ist das. So ist das Leben“ und dann ist es wieder still. Die Unterhose lasse ich unten wenn ich aufstehe und abziehe. Die wird sich schon von selbst wegräumen. Im Zweifel macht es diese Stadt. Die macht ja eh alles, ohne, dass ich davon was mitbekomme. Bewusst zumindest. Nach einem kurzen Blick in den Spiegel erwische ich mich dabei, wie ich einige Sekunden in dem Gedanken verweile, wann ich mich das letzte Mal so mürbe gefühlt habe. Die Antwort folgt auf dem Fuße. Gestern. Und am Tag davor. Und am Tag davor. Das Spiel könnte man ewig so fortführen. Also nochmal hinsetzen. Kopf an die Fliesen. Ordnerstruktur. Papierkorb. Format C. Gedanke gelöscht. Beim Aufstehen vermeide ich dieses Mal den Blick in den Spiegel – es wäre sonst eine dieser Endlosschleifen, aus denen man alleine nicht mehr rauskommt. Also schnell zurück in die Küche. Der komische Blick des Nachbarn durch das offene Fenster, als er meine primären Geschlechtsmerkmale entdeckt, schockt mich auch nicht mehr. Fröhlich grinsend – es ist so falsch – winke ich ihm zu. „Das ist die Stadt!“, rufe ich. Er nickt und geht seines Weges. So wie jeden Morgen.

Er ist einer dieser grauen Menschen. Nur schon viel grauer als die meisten. Die Stadt hat auch ihn zerfressen. Von innen heraus, bis seine äußere Hülle aufriss – schier platzte – und er Zement blutete. Industrieromantik einmal anders. Aus seinem Blut baute er sich ein kleines Haus am Randbezirk. So wirklich raus wollte er nicht. Seine Wohnung in der Stadt jedoch behielt er. Der Teufelskreis um die eigene Achse verlangte seinerzeit, dass dieses Haus am Randbezirk bis heute leer steht. Als ich noch nicht wusste, wie die Dinge wirklich liefen, fragte ich ihn nach dem Grund. Seine Antwort war so simpel, wie erleuchtend. „Das ist die Stadt!“. Mein verdutzter Blick schien ihn verwundert zu haben. Aber recht schnell wurde ihm klar, dass ich noch weit entfernt davon war, überhaupt auch nur annähernd etwas zu verstehen. Wie Recht er damit haben sollte, das ist mir erst jetzt bewusst geworden. Wenn ich heute rückblickend an diesen Moment denke, dann fällt mir auf, dass ich Bauklötze staunte – Ironie der Tatsache, aber so war es. Ein erstes Zeichen der Industrialisierung meiner selbst. Ein Zeichen, dass ich damals nicht deuten konnte, auch wenn sich die Bauklötze vor mir zu einem unüberwindbaren Haufen türmten. Unsichtbar zwar, aber vorhanden.

Wenn man nicht peinlich genau aufpasst, dann fällt einem gar nicht auf, dass der Tagesablauf eigentlich immer der gleiche ist. Nach dem Gespräch mit meinem Nachbarn, bequeme ich mich dazu, mir endlich mal meine Verkleidung, besser bekannt als Klamotten, überzustreifen. Ich ziehe es vor, nicht ständig und immer diese seltsame Form der Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Nicht jeder ist schon so weit wie meine dunkelgrauer Nachbar. Der Kaffee aus der Senseo Maschine ist nicht durchgelaufen. Ich hab vergessen ein weiteres Mal auf den Knopf zu drücken, damit das Wunderwerk der Technologie den braunen Saft auch in die Tasse spritzt. Das hole ich nach – so viel Zeit muss sein. Zum Trinken bleibt aber keine Zeit mehr. Also schütte ich mir den Kaffee nur schnell ins Gesicht. In der Hoffnung, dass dies den gleichen Effekt hat, wie wenn ich ihn runterschlucke. Hat es nicht. Immerhin gibt das aber einen schönen Teint auf der Haut. Das macht mich für einen kurzen Moment glücklich und ich muss grinsen. Fremdes Gefühl. Irgendwie. Also ziehe ich die Mundwinkel schnell wieder nach unten oder verforme meinen Mund immerhin zu einem geraden Strich. Das ist das Maximum an Ausdruck, welches ich morgens zu Stande bringe. Der Blick auf die Uhr lässt meinen Mund aber zu einem panisch zitternden „O“ werden und ich rase – ohne noch einmal in den Spiegel zu schauen, wir kennen das Problem schon – aus der Tür.

Auf der Straße quetsche ich mich durch Gestalten, die eins geworden sind mit dem Beton. Ich darf sie nicht berühren. Sonst bröckelt die Fassade. Erst letzte Woche berührte ich einen mir unbekannten Mann, der einfach nur so da stand. Grau, wie er war. Als ich mich gerade zu einer Entschuldigung durchringen konnte und mich umdrehte, bemerkte ich, wie sich sein Arm, den ich zuvor berührte, einfach vom betonfarbenen Körper löste, zu Boden fiel und dort in tausend Splitter zerschellte. Mir blieben die Worte im Hals stecken. Doch irgendwie sind die Worte, die einem fehlen doch die schönsten. So etwas schönes wollte ich nicht verschenken und so behielt ich die wunderbar formulierte Entschuldigung einfach in mir und schluckte sie runter. Ein warmes Gefühl in meiner Magengegend. Lange hielt das aber nicht an. Während ich noch an die vergangene Woche denke, greife ich um meinen Hals, um mir meine Kopfhörer aufzusetzen. Und bekomme Panik. Meine Hände greifen ins Leere. Ich habe meine Musik zu Hause liegen gelassen. Ohne überlebe ich diesen Tag nicht. Irgendwie muss ich mich vor dieser Stadt doch schützen. Meine Kopfhörer sind da genau richtig. Also haste ich wieder zurück. Diesmal ist mir egal, ob ich die grauen Gestalten berühre. Eine nach der anderen fallen sie. Zerschellen geräuschlos. Und dann ist es fast so, als hätten sie nie existiert. Die Stadt hat sie einfach aufgefressen und sie wurden eins mit ihr. Gierschlund.

Fünf Minuten später stehe ich zehn Meter unter der Erde. Auf den Ohren Musik. Neben mir Beton. Unter mir Beton. Vor mir ebenfalls Beton. Diese U-Bahn-Stationen sind einfach trostlos. Ich sehe sich bewegende Münder. Verstehe aber kein Wort. Das ist gut so. Ich will nichts von den Schicksalen der anderen wissen. Das Leben der anderen – es ist mir egal. Und vor allen Dingen möchte ich nichts über diese Stadt hören. Ich brauche meinen Freiraum. Ich brauche es, denken zu können. Wann, wenn nicht jetzt. Die Bahn fährt ein. Graue Massen drängen sich an den Bahnsteig. Prügeln sich in die Waggons, um dort zusammengepfercht zu stehen. Ich stehe mittendrin. Beobachte die Leute, alle mit sich selbst beschäftigt. Wie immer. Ellbogengesellschaft. Die Bahn fährt los. Eine Erschütterung, manche Gestalten berühren sich, zerfallen und werden eins. Asche zu Asche. Beton zu Beton. Nächster Halt. Versteinerte Gesichter vor den Türen. Eiserne Härte in den Blicken derer, die sich schon in der Bahn befinden. Türen gehen auf. Menschen strömen rein. Türen gehen zu. Der Alltag regiert. Die Menschen blicken zu Boden, während ich sie und ihre Eigenarten beobachte. Nach Fehlern in einer ach so perfekten Welt – ich dachte wirklich sie wäre es – suche. Die Bahn fährt unaufhaltsam Richtung Ziel. Immer mehr Graue steigen ein und wieder aus und zunehmend leert sich das Gefährt. Meine Haltestelle ist noch nicht erreicht. Und dann fällt mir zum ersten Mal auf, dass die Gestalten keine Gesichter haben. Schemenhaftes Gewaber. Undefinierbar.

Mittlerweile sind Sitzplätze frei. Ich bleibe stehen, bin unfähig mich zu bewegen. Diese plötzliche Erkenntnis lähmt mich. Bis auf´s Letzte. Ich werde von einer unsichtbaren Kraft an die Wand gedrückt und lasse mein Inneres nach außen kehren. Viel zu spät – wie immer – bemerke ich die Pfütze feuchten Betons unter mir und reagiere, wie man in solchen Momenten immer reagiert, mit Panik. Nie wollte ich werden, wie diese grauen Menschen. Nie wollte ich eins mit dieser Stadt werden. Und scheinbar bin doch auf dem besten Wege genau da hin. Viel zu lange habe ich die Augen verschlossen, vor den Zeichen, die wie Mahnmale über mir prangerten. Neonreklame, gleich der in Tokio. Gesehen habe ich sie nicht. Vielleicht wollte ich nicht. Jetzt ist es zu spät. Ich stehe alleine in der Bahn in meiner eigenen Pfütze meines ganz persönlichen Betons. Merke wie er langsam hart wird und ich mich nicht mehr fortbewegen kann. Ich spüre, wie meine Glieder steif werden. Mittlerweile spucke ich staubige Brocken. Mit lautem Krach fallen sie zu Boden. Ich würde so gerne schreien, aber nichts als heiseres Husten entweicht meinem Mund. Als es zu spät ist – also genau jetzt – erkenne ich langsam den Grund. Wie Schuppen – welche Ironie – fällt es mir von den Augen. Jetzt hilft nur noch eins. Kopf an die kalte Scheibe. Ordnerstruktur neu ordnen. Papierkorb leeren. Format C: Ausführung des Befehls verweigert. Erkenntnis kommt jetzt. Wir leben in einer anonymen Welt. In der Großstadt. Jeder für sich allein. Allein mit seinen Problemen und vor allen Dingen allein mit seinen Ängsten. Gesprochen haben wir nie. Sprechen werden wir nie. Warum? Weil wir es nicht mehr können. Unsere Ängste zerfressen uns von innen. Wir zerfressen uns von innen. Von ganz alleine. Wir haben die Kraft, das zu ändern. Doch wir nutzen sie nicht. Die Stadt verbietet uns das. Wir schieben die Schuld immer wieder auf diese Stadt und merken nicht, dass sie doch tief in unserem Inneren liegt. Die Stadt ist wir. Wir sind die Stadt. Wir fressen uns selber auf. Bis wir zerfallen. Und Häufchen gleichen. Elendshäufchen. Das ist Industrieromantik. Das ist unsere Strafe. Das ist der moderne Kannibalismus.

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