Panic in the streets of…
Je nach Beobachterstandpunkt, Fokus und Überzeugung war 2011 das Jahr der Umstürze, der Beteiligung, der Aufstände, der toten Despoten, V-Männer, der Havarien, Stresstests und Störfälle. Weltweilt simultan übertragene und kommentierte Ereignisse, die Revolution in Echtzeit sozusagen. Große und kleine Politskandale, panic in the streets of London, herangezoomt, die roten Äderchen im Auge erkennbar, blutüberströmt und triumphierend: die menschlichen Triebfedern des arabischen Frühlings. Zwar waren Medien, soziale Netzwerke und private Kommentatoren jederzeit – so schien es – hautnah dran am Geschehen (von dem Fukushima-Informationseklat einmal abgesehen; aber auch hier wurden die Newsticker ja mit leeren Informationen gefüllt im Minutentakt), über Langzeitentwicklungen wurde jedoch der behutsame Mantel des Schweigens gehüllt. Welche Auswirkungen wird die Occupy-Bewegung haben? Wann wird wieder normales Leben möglich in der Sperrzone? Frisst die Revolution ihre Kinder? Waren das bloß konsumblinde Jugendliche in Croydon, die ihrem Frust ob ihres vermeintlichen Ausgesperrtseins Luft machen wollten? Und, die für uns in diesem Kontext vielleicht wichtigere Frage, was macht man auf dem Feld der Musik daraus? Kulturindustrie, Inhalte, Entertainment. Modern Hardcore, der ja per se nie politisch gewesen ist, verschwand in der Mottenkiste kurzer Trends. Befindlichkeitsexperten und Geschichtenerzähler wie DEFEATER, TOUCHÉ AMORÉ, PIANOS BECOME THE TEETH und LA DISPUTE, sind die neuen (so wollen es uns zumindest einige Magazine glauben machen) Tonangeber, legen die Messlatte auf der einen Seite ein stückweit höher, kochen auf der anderen jedoch auch nur mit bekömmlichem Posthardcorewasser aus dem AT THE DRIVE-IN oder MEWITHOUTYOU-Reservoir. Bands wie CROWBAR, MACHINE HEAD, DEAFHEAVEN, LITURGY, TRAP THEM sorgen auch weiterhin dafür, dass man die alte Tante Metal nicht auslachen sollte. Wobei, stopp, LITURGY wurde durchaus das ein oder andere Mal ausgelacht. Von den RUSSIAN CIRCLES zum Beispiel, die beständig dafür sorgen, dass einem auf dem weiten Feld der Postirgendwas-Instrumentalmusik nicht die Füße einschlafen. Politisch im engeren Sinne ist jedoch keine der genannten Bands gewesen. ATLAS LOSING GRIP und I AM THE AVALANCHE betreiben Genrerettung auf hohem Niveau, alte Helden wie HOT WATER MUSIC oder GIVE UP THE GHOST erfreuen uns mit neuen musikalischen Lebenszeichen oder zumindest der Aussicht auf baldige Livepräsenz. Auch so ein 2011-Ding: das Jahr der Wiederveröffentlichungen. Manche Dinge erfahren eben erst nach Jahren die Aufmerksamkeit, die ihnen eigentlich von Beginn an zustand. Alte Recken wie SICK OF IT ALL und H20 betreiben Resteverwertung auf geht-so-Niveau. Spannende Grenzgänger wie LOMA PRIETA und BIRDS IN ROW lassen erwartungsfroh ins kommende Jahr blicken.
Wir danken euch allen fürs Lesen und Kommentieren. Für neue Impulse jenseits des „ich-weiß-ohnehin-alles-besser“ und (zumindest begrenzt) fruchtbare Diskussionen. Auf ein gemeinsames Jahr 2012 voller Neuentdeckungen. Mehr Menschen sollten im Internet einfach mal freundlich zueinander sein.
Euer Allschools-Team
Die Rückblicke der einzelnen Redakteure findet ihr
Hier.