Verwechslungsgefahr: Deutscher Punk mit Bläsern aus der ostdeutschen Provinz mit klarer Kante gegen Rechts? Wer jetzt 100 KILO HERZ sagt, der wusste längst Bescheid.
Die Parallelen zu den medial (noch?) wesentlich präsenteren Geistesbrüdern FEINE SAHNE FISCHFILET sind natürlich nicht zu übersehen, diese sehr aufdringliche Referenz haken wir jetzt trotzdem erstmal ab. Mit Referenzen sparen 100 KILO HERZ sowieso nicht, denn schon der Bandname ist einem der Hits auf MUFF POTTERs „Bordsteinkantengeschichten“ entliehen. Und ja, es gibt auf „Stadt, Land, Flucht“ durchaus den einen oder anderen Moment, der an die großen Vorbilder aus Rheine bzw. Münster erinnert, wie in „Nur für eine Nacht“, bei dem sich auch die sonst omnipräsenten Bläser etwas mehr im Hintergrund halten. Ähnlich selbsterklärend kommt „…und aus den Boxen …But Alive!“ daher, das mit seinem hohen Tempo gleichzeitig angenehm an ganz alte JUPITER JONES erinnert. Bevor das Namedropping noch weiter ausufert, wollen wir uns nun aber auf 100 KILO HERZ fokussieren: Die Band stammt aus der Sächsischen Provinz und hat sich inzwischen in Leipzig stationiert, was vielleicht das Wortspiel im Albumtitel erklärt. „Stadt, Land, Flucht“ ist das bereits zweite Album der sechs Punks, für dessen Produktion der renommierte Kurt Ebelhäuser (ADAM ANGST, PASCOW, FRAU POTZ) gewonnen werden konnte. Die zwölf Songs verbinden deutschen Punkrock mit Bläsern, wollen sich aber nicht in die Ska-Punk-Schublade stecken lassen. Ganz ohne dieses Label geht es dann aber doch nicht: Bereits der zweite Song „Tresenfrist“ lässt die Gitarren in der Strophe im typischen Upstroke-Rhytmus tanzen. Auch das tolle „Das ist ein Ende“ kann sich den Ska nicht ganz verkneifen, was dem Song aber keinen Abbruch tut. Besonders gelungen sind allerdings die Songs, die den Punkrock entweder maximal wütend und arschtretend zelebrieren („Scheren Fressen“, „Drei Jahre ausgebrannt“, „… und aus den Boxen …But Alive!“) oder sich etwas weiter über den Tellerrand trauen, wie im wunderschön melancholischen, aber trotzdem fetzigen „An Ampeln“. Auf der anderen Seite wirkt die über fünfminütige und recht höhepunktarme Halbballade „Träume (Reprise)“ so früh in der Tracklist ein wenig deplatziert. Auch die recht generische Heimatstadts-Hass-Liebe-Abrechnung „Der Späti an der Klinik“ wirkt leicht uninspiriert. Klarer Höhepunkt dagegen ist der großartige Ohrwurm „Drei vor Fünf vor Zwölf“, der auch beweist, wie hervorragend pointiert 100 KILO HERZ mit deutschen Texten umzugehen wissen. Gleiches gilt für das eindringliche und intensive „Wenn es brennt“: Der Song springt von Liedermacher-Einstieg über Halbakustikstrophe zu Trompetenpunk und malt dabei ein düsteres Bild von der Flucht aus einem Land, in dem der (rechte) Umsturz vollzogen wurde und beschließt das Album mit den Zeilen „Du weißt genau ich wollte nie kämpfen / Doch wenn es brennt passen wir auf uns auf“. So dystopisch geben sich 100 KILO HERZ zum Glück nicht immer, auch wenn sie ihre Kritik an bestimmten gesellschaftlichen Strömungen grundsätzlich sehr deutlich formulieren, dabei aber auch die eigene Szene nicht aussparen. „Stadt, Land, Flucht“ macht viel richtig und wenig falsch und verpackt klare Haltung in hittige Punkrock-Ohrwürmer (mit Bläsern).