Zwischen „Wasser kommt…“, „Inselwissen“ und „Treibeis“ liegen höchstens vier bis fünf graugrün gemaserte Bordsteine, zwei bis drei überfahrene Ampeln, elf bis zwölf knapp verpasste Bahnen und halt der ganze Lebensscheiß. Die paar hoffnungsvollen Niederlagen. Die paar überlebenswichtigen Alltäglichkeiten. Die paar Lebensstreber. Mit denen werden wir auch noch fertig. Rationalpark oder Menschenzoo? CAPTAIN PLANET platzieren sich irgendwo dazwischen und bleiben Deutschlands energetischste Schulterklopfer mit flatternden Herzen und hechelndem Schlagzeug. Elf neue Alltagsminiaturen, die Weiterentwicklung nicht zwingend nötig haben, Perfektion hingegen schon. Im Ergebnis ist das der beste Luxusstresspunk, den man sich wünschen kann.
Hamburg ist da, wo oben ist. CAPTAIN PLANET bleiben die Alten. Rotziger seien sie geworden laut Selbstauskunft, aber stimmt das wirklich? Noch dringlicher, das mag sein. Eingängiger auch. Mehr Sinn für’s Detail. Aber dreckiger? Man ist jedenfalls sofort drin im Strudel des allbekannten Themenkanons. Und die Gitarren, sie fliegen wieder. Die neuralgischen Punkte des Städterdaseins: Kiosk. Supermarkt. Plattenladen. Haltestelle. Sparkasse. Hier kann alles gut gehen oder halt gnadenlos schief. Die gute alte Wasser-Metaphorik-Nummer. Sämtliche Aggregatzustände. Fest, flüssig, aasförmig. CAPTAIN PLANET bleiben – so viel sei vorweggenommen - auch auf ihrem dritten Album rastlos, übereuphorisch und immer näher an den alltäglichen Quälereien, als uns eigentlich lieb sein kann. Denn Alltag haben wir schließlich selber zu Genüge. Weil CAPTAIN PLANET das alles jedoch so dicht und komprimiert, so hochpeitschend, so wenig selbstmitleidig und ohne Luft zu holen in Punksongs packen, die damals (zur richtigen Zeit) vielleicht Emo genannt worden wären, nimmt ihnen das keiner übel. Eine Band, die weiterhin so klingt, als würde sie ihre Songs im Laufen aufnehmen. Die Arbeit, die darin steckt, hört man ihnen trotzdem an. Weil alles Unwichtige einfach weggefeilt wurde.
Wie gehabt sind es bei den Hamburgern die großen kleinen Momente im Großen und Ganzen (ha!), die sich einbrennen: das stoisch zuckelnde, sich gegen sämtliche Gewinnerallgemeinplätze stemmende Finale von 'Spielplatz' („Wie gehst du nur mit den Niederlagen um? Wo üben die, die immer siegen?“), die harmoniebesoffenen Gitarren in 'Nationalpark'. In einem Ohr die Gitarren, im anderen die Stimme. Das Pathos, welches die Band sich erst am Ende so richtig aus der Trickkiste hervorzukramen getraut ('Gehwegflattern'). Dann aber richtig. Mit Chor und so. Oder die hohe Kunst der Alltagsbeobachtung in kleinen Zeilen: „Und am Abend spiegelt sich dein Tag im Bankautomatenmonitor“ ('Nest'). Das muss noch nicht mal beißende Kritik sein an einer atomisierten Gesellschaft, deren Individuen Begegnungen zumeist an Konsum koppeln. Auf Konzerten, im Kino, im Plattenladen (schon wieder), im Café, in der Kneipe ums Eck. CAPTAIN PLANET verhandeln hier schlichtweg persönliche Tatsachen. Mit Herzblut und ohne Moralin. Feindbilder auswendig lernen und die Wände mit Parolen beschmieren dürfen gerne die anderen. Auch das Jeansjackenpathos bleibt den Springsteen-Adepten.
Die Hamburger umschreiben auf "Treibeis" weiterhin ein Leben, dessen Grenzsituationen aus Alltäglichkeiten erwachsen. Die Band singt und spielt, sie stemmt sich gegen Dinge, die wir alle kennen, die manchmal belasten, bisweilen egal sind oder harmloser auf den zweiten Blick. Wenn man so möchte, sind CAPTAIN PLANET also eine der unspektakulärsten deutschsprachigen Bands unserer Zeit. Kein Underdog-Gestus. Keine manierierten Schlaumeiereien mit bewusst kryptischen Texten. Keine Kumpelpunkrockkraftspiele. Die Band klingt vielmehr schlanker, agiler, druckvoller noch als auf der Vorgängerplatte mit ihrem Raufaser-Sound und Jan Arne von Twisterns sich in immer schwindelerregendere Höhen heraufschraubende Stimme. Hier hat er sie besser im Griff. Ganz groß sind CAPTAIN PLANET wie immer genau dann, wenn sie ihren eigenen Songs hinterherlaufen müssen, wenn sie rennen, rennen, rennen ('Sand in den Augen', 'Auf Kleber'). Wenn das Schlagzeug den Puls vorgibt, die ADHS-meets-Euphorie-Momente. Die Stärke, sie liegt weiterhin in den Gitarren, die sich mal auftürmen, dann sprinten (logisch, wenn der eine Gitarrist Sturm heißt), Melodiesplitter ins Hirn pflanzen und über ihre eigene Beine stolpern. Auch ein guter Trick: ein Album mit einem wuchtigen Ruhe-vor-dem-Sturm Song zu beginnen, der eigentlich alles sagt und von beiden Seiten brennt - und den dann ausgerechnet 'Pyro' zu nennen.
"Treibeis" ist ein alte-Stärken-Album, das sich so formvollendet unangeberisch in Szene setzt, wie es jemandem wie Don Zientara gut passen würde. Überhaupt weht durch die Gitarrenarbeit ein latenter spät-80er Wind. Als windig gestimmte Gitarren durch den Song führten und kein Angeberschlagzeuger. Man fühlt sich bisweilen an HÜSKER DÜ erinnert, an melodischere EMBRACE oder GRAY MATTER. Mit den technischen Möglichkeiten und der Rastlosigkeit von heute, versteht sich. Nur ihren Punch, den haben sich CAPTAIN PLANET beim Lebenspunk der Neunziger (SAMIAM zum Beispiel) geborgt. Bleibt die Frage zum Schluss: Was hat der Hörer jetzt davon? Ist er für knappe dreißig Minuten ein bisschen weniger allein? Und wenn er es dann doch wieder wäre, wäre das schlimm? Scheitern als Chance. Funktioniert das wirklich? There is nothing left to lose. Viva allein. Captain lonely Planet. Was festzuhalten ist: Bands retten keine Leben. Haben sie noch nie getan. CAPTAIN PLANET, dieser tolle blaue, moralgeschwängerte Ökoheld rettet dir zumindest den Tag.
Tracklist:
01: Pyro
02: Sand in den Augen
03: Nest
04: Spielplatz
05: Stichling
06: Auf Kleber
07: Land unter
08: Aus alt mach neu
09: Nationalpark
10: Spinne
11: Gehwegflattern