Plattenkritik

Cruel Hand - The Negatives

Redaktions-Rating

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Release Date: 23.09.2014
Datum Review: 04.10.2014

Cruel Hand - The Negatives

 

 

Den Shitstorm zu „Lock & Key“ dürften CRUEL HAND aus Portland nach vier Jahren mittlerweile locker weggesteckt haben. Doch wer sich an dieser als „Metallica-Abklatsch“ verrufenen Platte gestoßen hat, für den ist der Nachfolger „The Negatives“ ein doppelter Mittelfinger. 2010 war „Lock & Key“ für mich das Album des Jahres und verdammt nah an einem Meisterwerk. Ich fragte mich, ob CRUEL HAND den Sound auf der nächsten Platte optimieren könnten. Doch weit gefehlt – „The Negatives“ hat damit nur noch verdammt wenig zu tun.

CRUEL HAND scheissen auf alles. Und ja, das ist Punk. Doch warum klingt „The Negatives“ so anders als alles bisher dagewesene? Zwei Umstände dienen zur schnellen Erklärung. Erstens: Man ist jetzt auf Hopeless Records. Genau wie All Time Low, New Found Glory oder The Used. Das Label weist keine einzige Band auf, die man wohl als Hardcore im klassischen Sinne ansehen würde. Da gingen natürlich bei vielen die Alarmglocken an. Zurecht, „The Negatives“ ist ein Fanverscheucher allererster Güteklasse. Zweitens: Das Bandmember-Karussell. Ohne viel Tamtam ist Nate Manning aus der Band verschwunden, ich habe das nicht mal mitbekommen, bis ich die Facebook-Seite vor einigen Tagen checkte. Scheinbar ist aus CRUEL HAND ein Vierer geworden. Ob dies ein dauerhafter Zustand ist, bleibt abzuwarten. Auf dem brandneuen Album sind jedenfalls des Öfteren zwei Gitarrenspuren eingespielt. Spätestens im Frühjahr 2015 werden wir es sehen – denn für diesen Zeitraum hat die Band eine erneute Europa-Tour angekündigt, nach dreijähriger Abwesenheit.

Zurück zu „The Negatives“. In Sachen Promotion haben CRUEL HAND und ihr neues Label nicht gerade geschlafen. Hier und da erschienen ein paar Songs für die Zwischenzeit, wie beispielsweise „Med Head“ auf einer Compilation und verschiedene Songs auf verschiedenen EPs („Born Into Debt, We All Owe A Death“, „Cheap Life“), wobei es wirklich schwer war, da den Überblick zu behalten. Doch dann veröffentlichte man Songs des neuen Albums. Und die sorgten für reichliche Diskussionen, insbesondere „Unhinged – Unraveled“, welches viele Anhänger mit dem verpöhnten „Suffer Survive“ verglichen, mit welchem No Warning vor einem Jahrzehnt versuchten in den Mainstream zu dringen. CRUEL HAND reagierte mit geposteten Mittelfinger-Bildern und der Warnung, dass das neue Album Spuren von Punkrock enthalten könne (beides inzwischen gelöscht).

Die Spannung könnte also kaum größer sein. Und auch wenn mir beim ersten Durchgang auf spotify fast die Galle hoch kam, muss ich inzwischen gestehen, dass ich Fan von „The Negatives“ bin. Am meisten störte mich anfangs dieser Misch-Masch: Ein pop-punkiger Song, ein harter Song, dann wieder ein langsam-träger Rocksong, dann ein Song mit Clean-Vocals und Ohrwurm-Refrain. Doch im Endeffekt lebt das Album genau von dieser Vielseitigkeit. „Pissing – Spitting“ ist die unbestrittene Punkhymne des Longplayers und erinnert ob seiner Verspieltheit stellenweise an A Wilhelm Scream. „Battery Steele“ hingegen könnte – wie auch der Name nahelegt – fast schon wieder als Metallica-Song durchgehen. „Why Would I“ ist schnell, groovy und rastlos, prischt einfach nach vorne. Und könnte fast schon von „Lock & Key“ stammen, teilt also mit die größte Ähnlichkeit mit dem Vorwerk der Band. Fettes Solo am Ende des Songs inklusive. „The Negatives“ als Titeltrack kommt dagegen sehr schleppend daher und ist wohl das versinnbildlichte „Fuck You“ an den angepissten Zuhörer. Schließlich wird sich in den Shitstorms der nächsten Wochen genau das bewahrheiten, was Chris Linkovich im Song feststellt: „We live in the negatives“. Es ist viel einfacher, Bands zu kritisieren und im Internet herum zu pöbeln, anstatt einfach mal selbst was auf die Beine zu stellen oder zu akzeptieren, dass Bands für sich selbst Musik machen und nicht für die Fans. Nach dem Labelwechsel bleibt allerdings im Falle von CRUEL HAND natürlich die Frage nach dem „Sell-Out“ offen.
Solche Diskussionen sind allerdings dermaßen ausgelutscht, dass ich sie hier nicht weiter ausführe. „Scars for the Well-Behaved“ fungiert ähnlich wie „Battery Steele“ lediglich als schnelles Schredder-Intermezzo, während mit „Heat“ der nächste Ohrwurm ansteht. Wie bereits erwähnt, gab es einige Songs des Albums bereits vorher zu hören („Heat“, „Vigilant Citizen“, „Cheap Life“, „Still“). Der eingeschlagene Richtungswechsel ließ sich anhand dieser Tracks bereits erahnen, doch dass er solche Ausmaße annimmt wie in „Unhinged – Unraveled“, das hätte wohl niemand erwartet. Noch konsequenter und schamloser als einst auf „Suffer Survive“ (No Warning) ziehen CRUEL HAND hier den alten Trick mit dem Pop-Refrain durch. Und er wirkt. Man wehrt sich zwar anfangs dagegen, aber „Unhinged – Unraveled“ bleibt im Ohr. Ähnlich wie viele der anderen Songs. Auch „Monument Square People“ ist für mich angesichts des Groove-Faktors und der kreativen und frischen Umsetzung ein weiterer Höhepunkt. An jeder Ecke überrascht der Song und ist in unter zwei Minuten Spielzeit mehr als nur kurzweilig.
Dann flaut das Niveau für meinen Geschmack jedoch ab, was auch daran liegen mag, dass es sich hier um Material von den „zwischendurch“-EPs handelt. „Vigilant Citizen“ weist noch punkige Züge auf, die Spaß machen. Doch die letzten drei Songs sind für mich die Resterampe des Albums und daher zu Recht am Ende platziert. Wobei ein gut platziertes Finale natürlich auch wirken kann und eigentlich dazu gehört. Darin besteht also der für mich größte Kritikpunkt, wie auch schon bei „Lock & Key“: Die letzten Songs sind zu schwach, um auf dem Album bestehen zu können beziehungsweise bemerkt zu werden. Umso mehr ist es jedoch ein Pluspunkt, das unter den ersten acht Songs des Albums so viele Ohrwürmer zu finden sind. Da möchte man nicht lange auf die nächste Runde „The Negatives“ warten.

CRUEL HAND bleiben 2014 spannend. Wenn auch weniger für die Hardcore-Szene und mehr für die „harte“ Musiksparte im Allgemeinen. Zu hoffen ist, dass die neuen Songs im Liveset der Band nicht all zu sehr als Fremdkörper herausstechen. „The Negatives“ überzeugt vor allem durch Abwechslungsreichtum, Spielfreude, Kreativität und die variable Stimme von Chris Linkovich. Das Album hält, was das bunte und knallige Artwork verspricht.


Tracklist:
1. Pissing – Spitting
2. Battery Steele
3. Why Would I
4. The Negatives
5. Scars for the Well-Behaved
6. Heat
7. Unhinged – Unraveled
8. Monument Square People
9. Vigilant Citizen
10. Gasoline
11. Still
12. Cheap Life

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Marcel

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