DEVIN TOWNSEND – ich glaube dieser Name ist mir schon sehr früh in meiner metallischen Enkulturation begegnet. Die Journalisten damals ließen stets mehr als ein gutes Haar an ihm und auch Freunde die seine Musik kannten, bewunderten ihn. Für das eine oder das andere Werk von ihm. Ich bekam irgendwann vor sehr vielen Jahren die Platte “City” von STRAPPING YOUNG LAD und da war mir klar: Dieser Mann ist ein musikalisches Genie – wahnsinnig (betrachtet man doch die eher ungewöhnliche Frisur, seinen Hang zu Drogen und seinen unkonventionellen Bühnenshows), aber dennoch nicht zu unrecht der „Professor des Metal“ genannt. Seit Jahren nun beschert uns TOWNSEND immer wieder einen Segen an unterschiedlichster Musik. Für ihn selbst gehört der kreative Schaffensprozess, wie der alltägliche Vorgang des Abkotens zum Leben dazu. Wir erinnern uns nicht nur an STRAPPING YOUNG LAD, sondern auch an die wunderbaren, epischen Werke seiner Solohistorie, wie „Terria“. Auch das eher irritierende, aber dennoch unglaublich amüsante, unterhaltende und durchdachte 2007er Werk „Ziltoid the Omniscient“ (dieses Album hätte der Soundtrack zu dem Buch „Per Anhalter durch die Galaxis“ sein können), bewies nur wieder einmal die Verknüpfung von überragender kompositorischer Fähigkeiten und Mut zum gesunden Egozentrismus in der Person TWNSEND, wobei die latente Schizophrenie niemals zu kurz gekommen ist. Seit den 90ern hat dieser Mann unablässig produziert (MISERY SIGNALS, SOILWORK, LAMB OF GOD. GWAR, DARKEST HOUR und und und), als Gastsänger/-gitarrist aufgetreten (STEVE VAI u.a.), Soloplatten veröffentlicht und natürlich mit dem chaotischen Metal-Mutterschiff STRAPPING YOUNG LAD regelmäßig Bühnenbretter und Wohnzimmer-Stereoanlagen zum Einstürzen gebracht. Das ist wahrlich eine beachtliche Leistung, auch wenn ich mich nicht als Fan seiner Musik bezeichnen kann, ringt es einem doch mehr als nur ein anerkennendes Kopfnicken ab.
2006 kam dann der Knall: STRAPPING sind Geschichte. Und nachdem „Ziltoid“ den verwunderten und verunsicherten Fans vorgeworfen wurde, an dessen Anschluss der Meister verkündete sich nun seinen Dämonen (Alkohol und illegale, 'bewusstseinserweiternde' Drogen) allein in den Wäldern Kanadas zu stellen, war man sich nicht ganz sicher was nun kommen würde (nicht das jemals jemand ernsthaft gedacht hätte „der DEVIN, der is nu wech, ne“). 2009 kehrte der verlorene Schäfer zu seiner Herde zurück und brachte ihnen „Ki“ und „Addicted“ mit. Zwei Alben, die „das Ende des Anfangs“ auditiv wiedergeben sollen. Für den Meister ist dies nun der Schritt, der ihn aus seinem alten Leben, in ein neues als Familienvater und Musiker führen soll. In den Wäldern hat er bemerkt, dass der Teufelskreis aus musikalischem Wahnsinn, der Ruhelosigkeit und den Drogen ihn nur zu jemandem macht, der seine „Selbstsüchtigkeit nur allen anderen [aufzwängt]“. Geläutert stellt er uns seine Sicht der vier emotionalen Komponenten dieser Selbstfindungsreise und Rehabilitation vor. Die Quatrologie seines Inneren endet in diesem Jahr mit den beiden vor mir liegenden Albe „Deconstruction“ und „Ghost“.
„Deconstruction“:
Neun Stücke, allesamt verstörend, destruktiv. Eine musikalische Achterbahn. Als würde man im Cockpit eines Mini-Jets sitzen, mit dem man durch die Synapsen-Wälder TOWNSENDs düsen würde. „Praise the Lowered“ leitet dieses Album mit einem bezirzendem Elektro-Song der ganz besonderen sphärischen Note ein. Sein Ende jedoch verwandelt diesen Song in einen infernalischen Einleitungsreigen in das, was „Deconstruction“ so abstoßend und doch anziehend wie ein Autounfall macht oder ein Hochhausbrand: Seine brutale Authentizität, gepaart mit einem musikalischen Spiel imaginärer Farb- und Klangspektren. Hier heißt es sich gut festzuhalten, denn dies ist keine leichte Kost. Doch wie heißt es so schön in „The Stand“: 'Some must face their fears to grow!' - na, denn. Auf geht die wilde Reise mit „Planet of the Apes“, „The Mighty Masturbator“ oder das blackmetallische „Juular“ das wieder vom vokalen Können TOWNSENDs profitiert: Operngesng vermischt sich mit Growls und Screams in einen ekstatischen Reigen puren Überlebenskampfs. Immer wieder wird Elektro mit Pop mit Metal vermischt und schafft so ein in sich heterogenes Soundkonstrukt, was nur auf den ersten Höreindruck konfus wirkt. Man nehme hier als Referenz „Pandemic“, für mich eines der besten Stücke die TOWNSEND geschrieben hat (von denen die ich kenne).
„Ghost“:
Gleich mit den ersten drei Songs werde ich Zeuge einer Offenbarung und bin ehrlich zu Tränen gerührt. „Fly“, „Heart Baby“ oder auch „Feather“ sind einfach unglaublich bewegende Songs über das Erwachen, das Lieben und das Leben. „Dark Matters“ oder „Infinite Ocean“ sind Stücke, welche diese letzte Platte in dem Zyklus TOWNSENDs am besten repräsentieren, wobei das ganze Album ein esoterischer Chill-Out Genuss mit pädagogischem Wert ist. DEVIN zeigt sich hier in seiner absoluten musikalischen (Schaffens-)Größe. Fernab von jeglichen Metalgestaden segeln wir hier im Bereich des Pop, der Folklore, irgendwo zwischen Synthie-Flächen, Panflöten, Akustikgitarren und einfach atemberaubendem Gesang. Damals war CANNIBAL CORPSE mit „Tomb of the Mutilated“ die härteste Musik der Welt (ich kannte noch kaum „Schreibands“). Nach all diesen Jahren in denen ich nun selber als Musiker arbeite, immer noch Fan der unterschiedlichsten Bands und Solokünstler bin und durch mein Musikstudium so viele neue Inputs bekommen habe, ist „Ghost“ doch mit Abstand das Schönste, was ich bislang in meinem Leben gehört habe.
Wenn ich bedenke, unter welchen Umständen und mit welchem Hintergrund diese Platten geschrieben wurden, dann würde ich „Desconstruction“ als Zerstörung des alten Ichs und Erbauung eines neuen bezeichnen. „Ghost“ ist sozusagen dann der Neuanfang. Der Tod des Alten und das Leben danach, wie auch immer geartet und unbekannt.
Ich bin ergriffen von diesem Werk. Für mich ist diese Quatrologie einfach die pure Essenz dessen, was für mich der Inbegriff von Kunst und besonders Musik ist: Ein Gemälde das zeitlos ist, das berührt, das dich mit nimmt in deine eigenen Abgründe und dich auf eine Seelenreise mitnimmt, die dir viel über dich selber erzählen kann. Vollkommen unabhängig von Kommerz und Trends, sowie dem Scheuklappen-Denken einer kapitalistischen, pervertierten Gesellschaft. Wenn Musik immer eine Funktion haben muss, dann hat TOWNSENDs „Reise durch das Ich“ eine inspirierende, eine reinigende. Eine Kartharsis der besonderen Art. Wenn ich das Gesamtwerk betrachte, welches für mich weit über ein reguläres Konzeptalbum hinausgeht, ich wage hier von einem Lebenswerk zu sprechen, einem „Masterpiece“, dann denke ich, dass DEVIN TOWNSEND definitiv den Grund der Flasche erreicht hat, die er über Jahre geleert und nun mit Seele gefüllt hat.
Besonders „Ghost“ wird bei mir unter die TOP TEN in meiner Plattensammlung rangieren und sich von dort nie wieder weg bewegen. Und bevor die ersten Stimmen laut werden, die von sich überzeugt sind, dass ihre Meinung Wert hat: Nein, ich war nie ein „Fanboy“ von diesem Künstler, aber ich bin ein „Fanboy“ von aufrichtiger, vielschichtiger und tiefgreifender Musik! In diesem Sinne der Anklage: Schuldig!
Tracklist
Deconstruction:
1 Praise The Lowered
2 Stand
3 Juular
4 Planet Of The Apes
5 Sumeria
6 The Mighty Masturbator
7 Pandemic
8 Deconstruction
9 Poltergeist
Ghost:
1 Fly
2 Heart Baby
3 Feather
4 Kawaii
5 Ghost
6 Blackberry
7 Monsoon
8 Dark Matters
9 Texada
10 Seams
11 Infinite Ocean
12 As You Were