Plattenkritik

LAGWAGON – Railer

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Info

Release Date: 04.10.2019
Datum Review: 03.10.2019
Format: CD Vinyl Digital

Tracklist

 

01. Stealing Light
02. Surviving California
03. Jini
04. Parable
05. Dangerous Animal
06. Bubble
07. The Suffering
08. Dark Matter
09. Fan Fiction
10. Pray For Them
11. Auf Wiedersehen
12. Faithfully

Band Mitglieder

 

Joey Cape - Vocals
Chris Rest - Gitarre
Chris Flippin - Gitarre
Joe Raposo- Bass
Dave Raun- Drums

LAGWAGON – Railer

 

 

Nostalgie versus Realitätsverweigerung: LAGWAGON machen auf ihrem neunten Studioalbum einen ganz großen Sprung zurück bis vor die Jahrtausendwende und somit die Entwicklung der letzten 19 Jahre rückgängig.

Dabei waren sie doch eigentlich schon viel weiter. Als dienstälteste und wahrscheinlich auch einflussreichste Band auf dem legendären Label Fat Wreck Chords haben LAGWAGON in den letzten 30 Jahren einen kompletten Stil entscheidend geprägt (wenn nicht sogar erfunden) und gehörten in den 90ern und frühen 00er Jahren zu den größten Namen im Business. Den klassischen „Fat-Wreck-Sound“, gekennzeichnet durch Galoppschlagzeug, sonnige Gitarren und Gesangsharmonien voller Hooklines, haben LAGWAGON auf „Thrashed“, „Hoss“ und insbesondere „Let’s Talk About Feelings“ bis zur Perfektion getrieben. Dabei waren sie den meisten Weggefährten und allen Epigonen schon immer den entscheidenden Schritt voraus, da die Kalifornier es verstanden, einen recht beschränkten Sound mit technischer Raffinesse und (für Genreverhältnisse) fast schon progressiven Harmonien aufzupeppen. Nach der Jahrtausendwende wurde das Songwriting dann erst noch ein wenig ausgefeilter („Blaze“), bevor „Resolve“ als Reaktion auf den Suizid von Schlagzeuger Derrick Plourde ungewohnt düster ausfiel. Es folgte eine neun Jahre währende Durststrecke (sieht man von der 2008 erschienenen EP „I Think My Older Brother Used to Listen to Lagwagon“ ab), die erst 2013 mit dem metallischen, beinahe proggigen Comeback „Hang“ endete. „Railer“ will davon nun nichts mehr wissen und klingt in allen Belangen so dermaßen nach 90er, dass es der Grenze zur Selbstpersiflage oft gefährlich nahe kommt. Sänger und Genreikone Joey Cape erklärt das pragmatisch mit "I borrowed a lot from early records". Wäre er nun nicht der supercharismatische Jugendheld, der er für die meisten Mitte-bis-Enddreißiger heute eben ist, man würde ihn wegen dieser frechen Untertreibung am liebsten schütteln und fragen, ob’s eigentlich noch geht. Dass „Railer“ über weite Strecken so klingt, als wäre es nicht nur in den 90ern geschrieben, sondern auch aufgenommen worden, wäre noch einigermaßen zu verschmerzen, wenn die Songs dann wenigstens auch vor sonnigen Melodiebögen strotzen würden. Wenn, dann richtig, bitte. So jedoch bringen „Stealing Light“, „Surviving California“ und „Jini“ den Nostalgiezug reichlich uninspiriert ins Rollen, wobei die viel zu dünne Produktion (Cameron Webb, u.a. ALKALINE TRIO, MOTÖRHEAD, PENNYWISE) nicht gerade zuträglich ist. Einen Pluspunkt stellen weiterhin die Texte von Joey dar, die gewohnt scharfsinnig die Schattenseiten der menschlichen Existenz beleuchten. Beim aggressiven „Dangerous Animal“ mit seinem bollerigen Basslauf im Intro und dem melancholischen Chorus kommt dann erstmals eine abgemilderte Form von Begeisterung auf. In „Bubble“ nehmen LAGWAGON sich und ihre selbstgeschaffene Soundblase dann auf die Schippe, machen dabei aber musikalisch nichts falsch und bereiten mit melodischem Basslauf und vielen Breaks den ersten richtigen Hit. Sollte heute wirklich noch jemand Best-Of-CDs brennen, „Bubble“ wäre ein sicherer Kandidat. Ungefähr ab hier nimmt das Album dann deutlich an Fahrt auf. „The Suffering“ gibt sich zunächst sehr schwermütig mit seinem todtraurigem Klavierintro und dem gesprochenen Zitat von Philosoph Bertrand Russel, geht dann aber in einen klassischen LAGWAGON-Smasher über. „Dark Matter“ befasst sich mit der zunehmenden Wissenschaftsfeindlichkeit in Politik und Gesellschaft und überzeugt mit ordentlich Tempo und Druck. „Pray For Them“ lockt mit flirrend-schönem Gitarrenriff und „Auf Wiedersehen“ erinnert mit seinen vielen Tempowechseln und mitreißenden Harmonien an das ‘98er-Meisterwerk „Let’s Talk About Feelings“. Dass LAGWAGON zum Schluss mit „Faithfully“ die alte Tradition der Coversongs wieder aufleben lassen, fällt nur dem auf, der das Original kennt, so perfekt transformieren sie den JOURNEY-Schmachtfetzen in ihren Soundkosmos - zweistimmiger Gitarrenharmonie und „Oh-Oh-Oh“ inklusive.

Am Ende bleibt ein zwiespältiger Eindruck von „Railer“, das zu viel Anlauf braucht, um den Schalter umzulegen. Vielleicht hätten LAGWAGON besser daran getan, ihre Reminiszenz auf die eigenen 90er-Glanzzeiten auf EP-Format zu begrenzen.  Oder sie hätten ihre alten Labelkumpel von STRUNG OUT fragen sollen, wie man es schafft, sich auch 2019 auf seine besten Tage zu berufen, ohne dabei angestaubt zu klingen.

 

 

Autor

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Daniel

Autoren Bio

Musikverliebt und reisefreudig, meistens nett und umgänglich, mit einer Gefühlspalette von "Live your heart and never follow" über "Hold Fast Hope" zu "I want to smash my face into that god damn radio / It may seem strange but these urges come and go"