Alter Schwede: In 27 Jahren Bandgeschichte haben MILLENCOLIN viel richtig und wenig falsch gemacht. Auf Ska-infizierten Melodycore folgte das Referenzwerk in Sachen hochmelodischem Punkrock, anschließend die Öffnung hin zu breitbeinigem Rock und schließlich die Rückbesinnung auf alte Tugenden. Was bietet Album Nummer Neun?
Kurz und knapp: Mittelmaß. Es wird galoppiert, es gibt mehrstimmige Chöre und Frontmann Nikola weiß weiterhin, wie er sein unverwechselbares Organ einsetzen muss. Aber wo ist das Gefühl geblieben? Wo sind die zwingenden Melodien, die „Pennybridge Pioneers“ zum absoluten Meisterwerk machten, auf „Home From Home“ und „Kingwood“ für unzählige Ohrwürmer sorgten und auf „True Brew“ vor vier Jahren plötzlich wieder im Übermaß vorhanden waren und das schwächelnde „Machine 15“ dadurch fast vergessen machten?
Es ist ja nicht so, als hätten MILLENCOLIN plötzlich verlernt, wie man mitreißende Hooks schreibt. Um einen ähnlich grandiosen Song wie „Reach You“ in der Discografie zu finden, muss man mindestens 17 Jahre zurückgehen und „Black Eye“ zum Vergleich laufen lassen. Bis hierhin hat man allerdings schon 5 Songs gehört, die nicht über ein "ok" hinauskommen. Und das anschließende „Do You Want War“ nervt mit seiner Penetranz gar so sehr, dass man fast gewillt ist, die Frage zu bejahen. Nicht falsch verstehen: Auf „SOS“ finden sich einige gute Rocksongs. Diese heißen „SOS“, „Nothing“ oder „Let It Be“. MILLENCOLIN sind aber weitaus mehr als eine gute Rockband und haben bereits zu oft ihre Klasse bewiesen, als dass sie sich jetzt mit gutem Standard durchmogeln könnten. Wissen sie wohl auch selbst, denn bevor das Album mit dem beschwingten „Carry On“ schließt, drehen die vier mit dem Duo aus „Dramatic Planet“ und „Caveman’s Land“ die Uhren zurück auf das Jahr 2000.
Hier liegt jedoch auch die Krux: In den besten Momenten kann man sich aufkeimender Nostalgie nicht verwehren. Vielleicht ist es unfair, nach so vielen Jahren immer wieder alte Glanztaten als Maßstab anzulegen. Vielleicht sollte man einer verdienten Band einfach zugestehen, befreit aufspielen zu dürfen, ohne sich dabei zwingend selbst übertrumpfen zu müssen. Denn MILLENCOLIN haben durchaus noch etwas zu sagen: Die Vier sind verdammt unzufrieden mit dem globalen Wahnsinn der Gegenwart, mit zunehmender Xenophobie und Egomanie, und das machen sie auch so deutlich wie nie. Eine Entwicklung, die sich schon auf dem letzten Album andeutete und sich jetzt in unmissverständlichen Titeln wie „Trumpets & Poutine“ manifestiert. Bei aller gesellschaftlichen Kritik sind sie dabei jedoch weit entfernt von Bitterkeit oder gar Zynismus, sondern transportieren immer noch ihre gewohnte Positivität und ihren ungeheuren Spielspaß. Und dafür muss man sie dann wiederum einfach lieben.