Zehn Geschichten, die eigentlich elf sind. Zehn Stockwerke, die tief in die bandeigene Vergangenheit ragen und ein Zugunglück mit Zirkustieren. Obwohl mewithoutYou spätestens seit "Catch For Us The Foxes" ihre völlig eigene Referenzgröße im Spannungsfeld spleeniger Post-Hardcore, metaphysischer Storytellerfolk und welthinterfragender Quasselstrippenrock sind, markiert ihr fünftes, detailreiches Album eine Art Rückkehr. "Ten Stories" ist der legitime "Brother, Sister"-Nachfolger. Die Tiere werden wieder unruhig. Zum Glück.
Fangen wir diesmal doch einfach mit den Tieren an. Mit Elefant und Bär. Walross und Fuchs. Mit Tiger, Hase und Lamm. Denn wenn mewithoutYou etwas von George Orwell gelernt haben, dann dass Tiere oftmals die besseren Menschen sind. Häufig natürlich auch die schlechteren. Mindestens die authentischeren. Im Falle ihres mittlerweile fünften Albums sind sie Protagonisten, Metaphern, Zeichen und Wunder. Das aus elf Songs bestehende "Ten Stories" (völlig logisch) – eine formidable Rückkehr zu alten Stärken – ist ein Konzeptalbum, das natürlich niemand so hören muss. Die losen Enden der Geschichte: Zirkustiere überleben im Hinterland von Montana ein Zugunglück, im Jahre 1878. Ab hier faltet sich eine Geschichte auf, die sich nicht mit wenig zufrieden gibt. Vor dieser, zugebenermaßen etwas naiv-krude wirkenden Folie, breitet Rasputin turned Bühnenrumpelstilzchen Aaron Weiss seine Weltweisheiten aus, seine Fragen, die im Idealfall nie beantwortet werden. mewithoutYou sind keine herkömmliche Band, eigentlich nie gewesen. mewithoutYou sind post-katastrophische Geschichtenerzähler, Poeten und sie waren früher da als andere. Irgendwer von LA DISPUTE hat irgendeine mewithoutYou-Platte im staubigen Regal stehen. Darauf möchte man wetten. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, ist es Jordan Dreyer. Wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich sogar, heißt besagte Platte "Brother, Sister".
Und genau hier (also im Jahre 2006) lässt sich die klangliche Ästhetik von "Ten Stories" auch verorten: Gitarren mit Ecken und Kanten, schiefen Winkeln und sich schneidenden Parallelen treffen auf die große, naturwüchsige Geste des Folk. Man muss das eigentlich schon lange nicht mehr Post-Irgendwas nennen. mewithoutYou sind ihr eigenes Klanguniversum. Aaron Weiss wimmert, fleht, flüstert, beschwört und rezitiert seine Zeilen mit glücklicherweise immer noch mangelhafter Atemtechnik. Seine Texte lesen sich so weltentrückt, bisweilen unschuldig-naiv wie ein Gedicht von Matthea Harvey: „Er hebt den Kopf und sieht eine Wand aus Blechbläsern auf sich stürzen.“ Diese merkwürdig metaphorischen, häufig den Kitsch nur latent streifenden Texte, die immer wieder das große Ganze auf engstem Raum verhandeln: Glaube, Liebe, Hoffnung. Man kann mewithoutYou natürlich immer auch als die religiös-geprägte Band hören, die sie nun mal seit jeher gewesen ist. Allerdings geht Aaron Weiss niemals mit seinem Glauben hausieren. Er missioniert nicht, sondern klopft vermeintlich in Stein gemeißelte Gewissheiten in mitunter naive, bisweilen überlebensgroße Bilder gepackt auf ihre Lebenstauglichkeit ab. mewithoutYou sind keine schlecht informierten und sägend humorlosen Bibelexegeten aus dem geistigen Hinterland wie UNDEROATH. mewithoutYou sind Sinnsuchende und Intellektuelle im besten Wortsinne. Zitate, Denkanstöße, Entlehnungen von Walt Whitman über Melville hin zu Hegel, bevölkern Texte und generellen geistigen Überbau.
Dass mewithoutYou wieder da sind, weiß bereits, wer die ersten drei Songs, nein, vertonten Gedichte des aktuellen Albums hört. 'February 1878' ist nicht nur titelgemäß eine Anspielung auf "Catch For Us The Foxes". Hier beginnt die Geschichte. Mit dräuenden Gitarren, festem Rhythmus und Schellenkranz. Aaron Weiss oszilliert zwischen entschlossenem Vortrag und Märchenonkel, der mit weit aufgerissenen Augen das Unerhörte erzählt. Zwischendurch immer wieder eine Melodie, die im Raum stehen bleiben darf: „Run on rabbit run.“ In 'Grist For The Malady Mill' (habt ihr das etwa nicht analysiert in eurem Englisch-LK? Schande!) trifft ein entrückter John K. Samson auf einen fokussierteren Jeff Mangum. Hier zeigt sich die ganze große Kunst der Band. Vor lauter Bildern und wohlklingenden Vokabeln, die Weiss‘ Sprechrhythmus vorgeben, vergisst man beinahe wie groß dieser Refrain ist, den man bereits den ganzen Tag im Herzen trägt: „…ain’t it an awful shame. And don’t it just break your heart to hear of so much shame?” 'East Enders Wives' wagt sich mit Fingerpicking und diesem typischen mewithoutYou-Bassdrumklopfen, mit weiblichem Gastgesang, Streichern und Stringenz am offensichtlichsten in jene Folk-Gefilde, in denen immer diejenigen scheitern, die zu dick auftragen. mewithoutYou passiert das nicht. Bevor das ganz große Drama kommt, ist der Song vorbei. Oder PARAMOREs Hayley Williams darf ein paar unaufdringliche Zeilen hauchen ('Fox’s Dream Of The Log Flume' und 'All Circles'), die nie Effekthascherei sind, sondern einen ähnlichen gerechtfertigten Kontrasteffekt bedienen wie die Engelsstimmen in Stücken von FUCKED UP. In ihren größten, erhabensten Momenten waren mewithoutYou seit jeher aus purem Rhythmus gebaut, aus Schlagen und Klopfen, gegenläufigen Bewegungen, außerweltlichem Pathos und Lebensbeschwörung. "Ten Stories" klingt insgesamt zwar wesentlich fokussierter, songorientierter, weiß jedoch in den richtigen Momenten um die Wichtigkeit der Wende. So kippt der vermeintliche WEAKERTHANS-Gedächtnissong (schon wieder) 'Nine Stories' in eine Saxophon induzierte Euphoriehymne. Dann, an den richtigen Stellen: die Trompeten und das Schifferklavier. Die Unschuld eines Wiegenliedes. Das aufregende Gefühl warmer Verlorenheit, wenn der Leser/Hörer nicht weiß, in welche Richtung die Geschichte trägt. Sie wird, bei allen ausgeleuchteten Abgründen, mindestens gut ausgehen. So viel Hoffnung wird ja wohl noch erlaubt sein.
Tracklist:
01: February 1878
02: Grist For The Malady Mill
03: East Enders Wives
04: Cardiff Giant
05: Elephant In The Dock
06: Aubergine
07: Fox’s Dream Of The Log Flume
08: Nine Stories
09: Fiji Mermaid
10: Bear’s Vision Of St. Agnes
11: All Circles