Das hatte für 2020 wohl keiner auf seinem Zettel: SEAHAVEN bringen noch einmal ein Album raus. Eine der rar gesäten guten Nachrichten in diesem Jahr und ein Trost für alle, die Live-Musik gerade so unermesslich vermissen.
Nicht einmal mehr die Band um Frontmann Kyle Soto selbst schien noch daran geglaubt zu haben, dass nach dem Ausnahmealbum „Reverie Lagoon: Music for Escapism Only“ aus dem Jahr 2014 nochmal ein Nachfolger erscheinen wird. Es wurde Jahr für Jahr ruhiger um SEAHAVEN – bis dann schließlich komplette Funkstille war. Die Latte durch „Reverie Lagoon“ selbst hoch gelegt, schrieben die vier Musiker genug Demos für ein neues Album, verwarfen jedoch das gesamte Material nach zäher und letztendlich erfolgloser Label-Suche. Heute betiteln sie dies als ihre „düstere Phase“. Nach einer letzten Tour im Sommer 2016 nehmen die Gedanken an ein Ende der Band bei allen Beteiligten zu. Soto legt seine Gitarre beiseite und rührt sie „vielleicht zweieinhalb Jahre“ nicht an. Es sind die Freunde, die außerhalb der Band, die man während all der Tourneen gewonnen hat, die SEAHAVEN quasi unbeabsichtigt wieder Leben einhauchen. Zum 10-jährigen Bestehen wollen MAN OVERBOARD die vier Kalifornier als Vorband mit an Bord (höhö) haben. SEAHAVEN bemerken, was sie da aufgegeben haben und spielen mit neu gewonnenem Enthusiasmus einige Headline-Shows, schließlich auch das Abschiedskonzert der großartigen BALANCE AND COMPOSURE. Dort wird unter der Hand der Deal mit Jake Round von Pure Noise Records eingetütet, der SEAHAVEN komplette künstlerische Freiheit und keinerlei Zeitdruck verspricht. Es ist eine Rückkehr nach Costa Rica im April 2019, die dann Gewissheit bei Soto, der halb Costa-Ricaner ist, entstehen lässt. Die Geschichte seiner Band soll noch nicht zu Ende sein.
Anderthalb Jahre später ist „Halo of Hurt“ dann wirklich da. „Moon“, der erste Teaser, stiftet mit seiner Weirdness bei vielen Fans Verwirrung, tut der Vorfreude jedoch keinen Abbruch. Unmöglich kann man von einer Band nach sechs Jahren erwarten, dass sie sich kaum verändert hat. Soto’s Stimme bezaubert nach wie vor in hohen und tiefen Gefilden. Die weiteren Vorab-Singles „Bait“ und „Harbor“ kommen in harmonischerem Gewand daher, mehr nach dem Gusto der Anhängerschaft. Dass „Halo of Hurt“ jedoch kein „Reverie Lagoon“ Teil 2 werden wird, dürften nicht nur die Songs, sondern auch das düstere Artwork schon im Vorfeld klargemacht haben. „Void“ eröffnet den Longplayer resigniert, kontemplativ und irgendwie kalt. Soto klingt ernüchtert, die Instrumentierung hinter ihm dramatisch. Das bereits erwähnte „Moon“ bringt im Anschluss die Dynamik der Platte in Gang. Mit prägnantem Bass und sägenden Gitarren eröffnet sich eine ganz neue Facette der Band, die geheimnisvoll und süffisant klingt. In eine ähnliche Kerbe wird später noch einmal „Living Hell“ schlagen. Zwischen diesen beiden Tracks finden sich vier Lieder, die durch gefühlvolle Arpeggios, bedachtes Schlagzeugspiel und im Hintergrund wabernde Synthies dominiert sind. SEAHAVEN pendeln zwischen schaurig-melancholisch und düster-destruktiv, offenbaren an vielen Stellen ihre große Stärke in den ruhigen Momenten, was an BRAND NEW (und insbesondere deren letztes Album „Science Fiction“) denken lässt. So etwas geht nur auf, wenn man eine Stimme wie Kyle Soto hat und neben nackigen, gemuteten Gitarren-Spuren nicht verlegen und deplatziert wirkt. „Bait“ jagt neben „Lose“ die größte Gänsehaut über die Unterarme, bevor „Eraser“ dann den Bogen schließt und als passendes Gegenstück zu „Void“ ebenfalls mit Streichern und Dramatik die Platte zu Grabe trägt – und auch wirklich so klingt.
Nicht nur im Roster von Pure Noise, sondern auch in der gesamten Szene, der SEAHAVEN entstammen, nehmen die Kalifornier weiterhin eine absolute Ausnahmestellung ein. "Halo of Hurt" verzichtet fast komplett auf Distortion, ist minimalistisch nackt und doch voller zu entdeckender Melodien. Die Produktion klar und präzise.
Man kriegt den Eindruck, als hätte Kyle Soto in den letzten sechs Jahren keine leichte Zeit gehabt. In der Liebe scheint er kein Glück gehabt zu haben, oder aber er kann verdammt gut so texten und klingen. War „Reverie Lagoon“ das warme Lagefeuer am Strand nach einem heißen Sommertag, dann ist „Halo of Hurt“ die Brise an einem verregneten Tag, an dem der Himmel vor der Küste den ganzen Tag mit endlos dichten Wolken behangen blieb. Lädt „Reverie Lagoon“ zum noch für eine Dreiviertelstunde Liegenbleiben am sonnigen Sonntagmorgen ein, so lädt „Halo of Hurt“ zum melancholischen Bilanzieren all der Dinge, die da schief gelaufen sind, ein. Vielleicht allein, vielleicht im Dunkeln. Schön, dass es jetzt für beide Gefühlszustände ein SEAHAVEN-Album gibt.