"Junkies und Scientologen" ist kein Highway, sondern (wie) die B73. Ab und zu schnell, manchmal langsam, Entdeckungen lauern an jeder Ecke. Dörfer, Gemeinden, Orte, Städte. Und mittendrin Hemmoor, die Heimat des Songschreibers THEES UHLMANN. Der eigentlich gerne Jürgen Klopp wäre. Dessen Mutter es wahrscheinlich besser geht als ihm selbst. So zumindest vermutet er es im Opener "Fünf Jahre nicht gesungen". Hemmoor, auch meine Heimat, habe ich dort doch von Geburt an bis zu meinem 20. Lebensjahr gewohnt. Bei Thees' Mutter habe ich in der dritten Klasse die Plattdeutsch-AG besucht. Auch wenn wir uns nicht kennen, spüre ich eine Nähe. Die Songs auf "Junkies und Scientologen" verstärken dieses Gefühl, denn nie ließ Thees den Hörer bislang so nah an sein Innerstes heran. Fünf Jahre nicht gesungenn, aber fünf Jahre viel nachgedacht.
Thees hat sich verändert. Aber glücklicherweise nicht musikalisch. Kein Genre-Wechsel oder elektronische Experimente. Und das lässt mich aufatmen, denn Thees macht genau das was er am besten kann: Geschichten erzählen im musikalisch ansprechenden Indie-Gewand. Wenn die Stimme des Sängers erklingt, fühlt man sich zu Hause. Nicht, weil er die beste oder schönste Stimme des Landes hat, aber weil Ehrlichkeit in seiner Stimme liegt. Man erkennt sofort, dass Thees sich Zeit gelassen hat mit den dargebotenen Songs. Fünf Jahre liegen zwischen dem zweiten und dritten Album. Die drei vorab ausgekoppelten Singles "Fünf Jahre nicht gesungen", "Avicii" und "Ich bin der Fahrer, der die Frauen nach HipHop Videodrehs nach Hause fährt" bilden einen guten Querschnitt des Albums ab. Eine Bestandsaufnahme in "Fünf Jahre nicht gesungen", eine stark ausgeprägte Emotionalität in "Avicii" und kritische Töne in "Ich bin der Fahrer, der die Frauen nach HipHop Videodrehs nach Hause fährt".
Das leicht ironische "Was wird aus Hannover" hingegen stellt vielleicht die wichtigste unwichtige Frage des diesjährigen deutschen Musikjahres: "Was wird aus Hannover, wenn die Scorpions nicht mehr sind?" Sollte man mal drüber nachdenken. Apropos Nachdenken. Das nachdenkliche "Avicii" gedenkt einem Ausnahmekünstler, der viel zu früh von uns gegangen ist. Thees verpackt seine Gedanken in treibendes Up-Tempo, das uns dazu bringt das ein oder andere Taschentuch zu zücken. Musikalisch in eine ähnliche Kerbe schlägt "Katy Grayson Perry". Der Song mit dem höchsten Rock-Appeal der Platte. Katy Perry beim GHvC unter Vertrag. Eine absurde, aber feine Idee:
"Katy Perry, ich spüre deinen Schmerz, komm zum GHvC
Und dann sing’ ich dir auf Norddeutsch Lieder vom norddeutschen Schnee
Und du singst auf Kalifornisch von den Zügen nach Santa Fe
Katy Perry, komm zum GHvC"
Die schnelleren Songs sind Thees im dritten Anlauf wirklich gelungen und machen trotz der meist bedeutungsschweren Texte jede Menge Spaß. Am stärksten ist der Sänger aber immer noch im Mid-Tempo. "Ich bin der Fahrer, der die Frauen nach HipHop Videodrehs nach Hause fährt", "Danke für die Angst" und der Titeltrack sind hierfür beste Beispiele.
Den emotionalsten Moment des Albums kreiert der Songschreiber mit großem Abstand auf "Menschen ohne Angst wissen nicht, wie man singt". Erinnerungen werden wach an "Nichts ist so schön auf der Welt, wie betrunken traurige Musik zu hören" von der TOMTE-Platte "Heureka" aus dem Jahr 2008. Der Sound ist ähnlich, die Emotionalität noch stärker. Das Gefühl und die damit verbundene Gänsehaut. Das Piano, der leichte Bass, die zerbrechliche Stimme von THEES UHLMANN. Eine hoch emotionale Indie-Ballade. Vielleicht der schönste Song, den der Hemmoorer je geschrieben hat.
Nachdem "Die Welt ist unser Feld" das Rock-Herz nochmal fest umarmt, biegt THEES UHLMANN mit "Immer wenn ich an dich denke, stirbt etwas in mir" von der B73 ab. Ein sich aufbauender Song, der sich thematisch mit dem Verlust und dem damit verbundenen Schmerz auseinandersetzt.
"Ich denke noch gern an dich, ich denke gern an dich, dann und wann, ja
Ich bin der Letzte mit einem Bierglas in einer Welt voller Champagner
Die Welt ist von sich selbst besoffen, aber ich bleib beim Bier
Und immer wenn daran denke, immer wenn ich daran denke,
Immer wenn ich an dich denke, stirbt etwas in mir."
THEES UHLMANN hat mit "Junkies und Scientologen" vielleicht seine stärkste Solo-Platte geschrieben. Mit "Menschen ohne Angst wissen nicht, wie man singt" vielleicht den stärksten Song seines bisherigen Schaffens kreiert. Fünf Jahre lang gewartet. Auf diesen Ritt über die B73. Gelohnt hat es sich.