Eigentlich war es klar. Oder eher: Eigentlich hätten wir es wissen müssen. Wir wollten es nur nicht wissen. „Precambrian“ war ein absolutes Vorzeigewerk und die Spitze einer Diskographie, die schon so auch durch ein ambitioniertes und vielfältiges Songwriting geprägt war. Doch eine Band wie THE OCEAN, welche sich als Kollektiv mit ständig wechselnder Bemannung – immer angepasst der jeweiligen musikalischen Ambition -, und nicht als feste Band im eigentlichen Sinne versteht, steht mit jedem Album vor einem Risiko: Neue Musiker bringen neue Musik mit sich – und jede neue Besetzung muss auch erst mal funktionieren. Oder anders gesagt: Was auf dem letzten Album noch sehr gut funktioniert hat, kann schon auf dem nächsten Album ganz anders sein. Es war klar, dass auch Nico Webers als Sänger nur einen Abschnitt des Werdegangs von THE OCEAN übernehmen sollte – zumal er mit seiner „neuen“ Band WAR FROM A HARLOTS MOUTH eh zu genüge ausgelastet ist, und dann auch nur eine Stimme von vielen im „Kollektiv“ war. Loïc Rossetti heißt nun der Neue bei THE OCEAN - und mit ihm kommt ein Stilwandel, welcher selbst kühnste Erwartungen übertrifft.
Der statische, der Dirigent im Chaos THE OCEAN: Robin Staps. Jedes noch so beliebige Interview weitet er zur potenziellen Story aus. Live kommt man mit einer Lightshow daher, für die sich ein ganz eigener Teil des Kollektivs, welcher immer auf Tour dabei ist, verantwortlich zeigt. Mit (dem mittlerweile nicht mehr existierenden) „Oceanland“ baute man sich einen eigenen Komplex für die intensive Arbeiten, welcher von Proberaum über Aufnahmeort bis zum „Chillroom“ alles impliziert, was eine Band (wie THE OCEAN) für ein neues Album so braucht. Das letzte Album, „Precambrian“, war nicht bloß ein Doppelalbum mit zwei groben stilistischen Ausrichtungen, welche dann (vor allem im zweiten Akt) noch weiter differenziert werden sollten, nein: Es war auch ein Konzeptalbum. Und „Heliocentric“? Wird wieder ein Doppel- und Konzeptalbum. Nur releastechnisch aufgeteilt – so ähnlich, wie das SYSTEM OF A DOWN mal gemacht haben.
Man muss kein Weiser sein, um zu verstehen dass diese Band – pardon, dieses „Kollektiv“ – mehr ist als dass, was man sonst so aufs musikalische tägliche Butterbrot bekommt. Dafür kann, nein muss man sie respektieren. Nur manchmal wirkt es etwas „zu viel“, beispielsweise Live – aber das will ich hier nicht diskutieren. Reden wir also lieber über das neue Album, über „Heliocentric“. Wie ist es geworden? Überraschenderweise markiert es, nun nicht unbedingt das komplette Gegenteil, aber schon doch eine Umkehr dieser „More than music“-Mentalität. Klar: „Heliocentric“ ist immer noch Teil eines großen Ganzen (nämlich eines Doppelalbums), und wird (wohl) auch in gewohnter Art von THE OCEAN präsentiert. Doch die eigentliche musikalische Substanz ist dieses Mal viel reduzierter, ja auch viel eingängiger.
Das liegt zum einem an Sänger Rossetti: Größtenteils begleitet er die Songs mit einer Stimme, die in einigen Momenten sehr viel von NINE INCH NAILS-Vater Trent Reznor hat, dabei aber vor allem mit klarem Gesang - und lässt nur ganz selten die sonst so dominanten gutturalen Klänge spielen. Dem fügt sich das Songwriting: Ungewohnt einfache, ruhige Stücke, gelegentlich sogar etwas an die letzte THRICE (!) erinnernd. „Ptolemy Was Wrong“ markiert dem Höhepunkt dieser neuen Ausrichtung, wenn dann Rossetti zunächst alleine mit Klavier auf eine Art singt, wie man sie auf vielen Alben, nie aber einem von THE OCEAN erwartet. Wirklich aggressiv wird „Heliocentric“ nie; nur gelegentlich legen sich dann kleinere Riffsalben und Growls über die so balladesk gehaltenen Songs, die ganz kurz an vergangene Zeiten erinnern.
Wer mit „Ruhe“ bei THE OCEAN die zweite Hälfte von „Precambrian“ verbindet, sollte jedoch Vorsicht walten lassen. Zwar hat „Heliocentric“ die progressive Ader nicht völlig im Keim erstickt, lässt sich aber schon weitaus eher auf Strophe-Refrain-Strophe-Muster ein. „Heliocentric“ klingt aber schon auch mit seiner viel „netteren“ Stimmung völlig anders als dass, was wir zuletzt noch gegen Ende von „Precambrian“ geliefert bekommen haben.
In seiner Direktheit erinnert „Heliocentric“ an „Aeolian“ – nur dass 2010 nicht Chaos, sondern ruhigere Töne das Augenmerk darstellen. Schlecht macht dies „Heliocentric“ aber auf keinen Fall: Hat man sich erst in den wiedermal neuen Sound des Kollektivs eingearbeitet, ergeben sich durchaus Highlights und Momente, die einen berühren. „Epiphany“ lässt beispielsweise wieder Platz für sehr nette Ausschmückungen gen alternativer Instrumentalisierung, und „Metaphysics Of The Hangman“ kann durchaus sowas wie Ohrwurmqualitäten vorweisen. Man muss sich nur auf diesen neuen Sound, auf diese neue Art, wie THE OCEAN ihre Ambitionen transportieren, einlassen, nicht zuletzt dem ganzem aber auch genügend Zeit geben. Am besten wird man wohl mit „Heliocentric“ zurecht kommen, wenn man nach „Precambrian“ einfach keine Erwartungen auf etwas Neues hegt, und sich auf alles einlässt, was einfach „gute Musik“ ist. Tut man dies, wird man mit einem Album belohnt, welches zwar bei weitem nicht an die Klasse und das Reichtum an großartigen Ideen seines Vorgängers heran reicht, dafür aber auf seine ganz eigene Art zu bezaubern weiß.